Gedanken – Der erste Blick

Ich gebe es zu: wenn ich früher gefragt wurde, worauf ich bei einer Frau als erstes schaue, so gab ich stets die politisch korrekte Antwort: ins Gesicht. Manchmal präzisierte ich diese Aussage auch noch, indem ich behauptete, gleich zu Beginn Blickkontakt gesucht zu haben. Denn die Augen sind, wie es so schön heisst, der Spiegel zur Seele. So wurde mir nach nur wenigen Worten die Anerkennung zuteil, nicht auf Äusserlichkeiten fixiert zu sein und den Wert des Charakters richtig zu schätzen.

Nun ist es aber leider so, dass diese Antwort – so gerne sie auch gehört wird – nur teilweise der Wahrheit entsprach. Wahrscheinlicher ist, dass der Blick ins Gesicht der zweite war. Zuvor habe ich, möglicherweise sogar unbewusst, die Frau von oben bis unten gemustert, ihre weibliche Ausstrahlung in mich aufgenommen und ihre hoffentlich vorhandenen Rundungen auf mich wirken lassen – und all dies in weniger als einer Sekunde. Ich habe abgeschätzt, ob sie als Partnerin für mich in Betracht kommt. Obwohl das ein natürliches Verhalten ist, das aus dem menschlichen oder hier insbesondere männlichen Fortpflanzungstrieb herrührt, wäre es unangebracht gewesen, diese Antwort zu geben – weil sie nicht politisch korrekt ist.

Um noch einen Schritt weiter zu gehen: in der Tat gehen dem Blick ins Gesicht zwei Blicke voraus. Zwischen der unbewussten Aufnahme der Weiblichkeit und dem finalen, gewünschten Blickkontakt habe ich wahrscheinlich den für mich schönsten Körperteil des schönen Geschlechts richtiggehend in mich aufgesogen: den Bauch. Jenes Körperzentrum, das entweder flach und schlank, sanft gerundet oder auch mit viel weichen Speck überzogen ist.

Doch kann man diese Antwort geben? Wenn ich sagte, ein schlanker, flacher Bauch sei schön, so wurde mir Oberflächlichkeit vorgeworfen. Im umgekehrten Falle musste man wohl damit rechnen, wenigstens auf Unverständnis zu stoßen, womöglich würde man als unnormal oder gar pervers bezeichnet. Doch auch der Mittelweg scheint keine Lösung zu sein, nicht zuletzt bedingt durch das gängige Schönheitsideal, dem selbst die kleinsten Fettpölsterchen ein Angriff auf die Ästhetik sind. Entweder schlank und schön – oder dick und hässlich.

Gefangen in Extremen – ist es da nicht leicht, selbst diesen Weg zu wählen? Eben sowenig, wie man in den Augen eines anderen Menschen dessen Charakter lesen kann, kann man über die Körperlichkeit allein eine Beziehung zu einem anderen Menschen herstellen. Natürlich schätzen wir alle einander bewusst und unbewusst mit unseren Blicken ab, finden Gefallen an bestimmten körperlichen Merkmalen oder fühlen uns davon eben nicht angezogen. Doch auch der "schönste" Mensch kann ein Ignorant sein. Und wer seinen Blick nur auf eine Sache richtet, der ist mit Sicherheit einer.

Statt dessen scheint es mir heute besser, eine ehrliche Antwort zu geben. Selbstverständlich schließt das den Blick in die Augen, von dem ich mir zumindest erhoffe, etwas über den Charakter meines Gegenübers zu erfahren, mit ein. Ebenso wie ein Gespräch, denn nur durch die Kommunikation kann ich erfahren, ob sie wirklich zu mir passt. Aber: ich bin auch körperbetont, mag einen schönen, weiblichen Bauch. Gerne auch, wenn er nicht ganz schlank ist. Und ich stehe dazu. So wie jeder zu dem stehen sollte, was er ist und was ihm gefällt. Wäre das wirklich schlimm?

Für die den Schlankheitswahn verbreitenden Medien vielleicht, für die mit ihren Produkten darauf abgestimmte Industrie bestimmt. Aber für uns aller Voraussicht nach eher nicht.

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