"Wie ein Sprecher des Ministeriums für Volksgesundheit heute bekannt gab, ist in diesem Jahr erneut mit einem leichten Rückgang der Unternormgewichtigen-Zahl zu rechnen. Nachdem die Quote bereits im letzten Jahr um 2,1 % gesunken war, rückt damit das vor drei Jahren ausgegebene Ziel, die Unternormgewichtigen-Quote auf 12 % zu reduzieren, in greifbare Nähe. Experten zufolge liege dies vor allem an den in der letzten Legislaturperiode geschaffenen gesetzlichen Grundlagen. Insbesondere das BMI-Stabilisierungsgesetz, welches neben der Einrichtung von Staatsbehörden zur Gewichtskontrolle Unternormgewichtiger auch ein allgemeines Sportverbot einführte, habe erheblich zur Erreichung dieses Ziels beigetragen. Darüberhinaus habe mit den zeitgleich eingeführten Regelungen im Krankenkassengesetz, die es den Kassen ermöglichen, Kunden mit einem BMI unter 28 abzulehnen, auch bei der Allgemeinheit ein Umdenken begonnen. Der eingeschlagene Weg sei richtig und werde auch in Zukunft fortgeführt, so der zuständige Minister. Die dritte und letzte Stufe der Reform des Gesundheitswesens, die unter anderem die Einführung erweiterter Kontrollbefugnisse für Mitarbeiter der…"
Ernüchtert schaltete Kami das Hologramm der Nachrichtensprecherin ab. Es waren ohnehin keine wirklichen Neuigkeiten, die dort verkündet wurden. Die Zahlen waren bereits vor einigen Tagen im Netz aufgetaucht, nachdem sie aus dem Ministerium durchgesickert waren, aber auch da hatte Kami sich nicht darüber freuen können. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass sie die Einzige war, die den Irrsinn dieses Vorhabens erkannte. Doch was konnte ein Mensch alleine tun? Zumal sie auch so schon zu einer Minderheit gehörte, einer Minderheit, die geradezu geächtet war. Als sie noch jünger gewesen war und zur Schule ging, da hatte sie dies schmerzlich erfahren. Sie mochte gar nicht an all die Schimpfnamen denken, die man ihr gegeben hatte, und das nur, weil sie anders als die Anderen nicht dick gewesen war. Und dabei sie hatte nicht einmal was dafür gekonnt. Als Kami 8 Jahre alt gewesen war, da hatte man bei ihr eine Stoffwechselerkrankung fest gestellt. Offenbar verbrannte ihr Körper weit mehr Kalorien als es normal gewesen wäre, und egal wie viel sie aß, sie wurde einfach nicht dick. Damals hatte sie das gestört, denn wie gerne wäre sie einfach ganz normal gewesen und hätte dazu gehört. Einmal kein Aussenseiter zu sein, das war immer Kami’s Traum gewesen. Jetzt, mit 23 Jahren, hatte sie diesen Traum aufgegeben. Freiwillig. Heute war sie froh, anders zu sein. Nicht dick zu sein. Damit war sie etwas besonderes, nicht so wie alle Anderen. Ganz davon abgesehen, dass sie im Gegensatz zu den meisten Menschen keinerlei gesundheitliche Probleme hatte.
Umso mehr ärgerte sich Kami darüber, dass ihre Eltern sie nicht auch nur ein bisschen unterstützten. Im Gegenteil, auch dieses Jahr würden sie Kami wieder in eines dieser Kurzentren schicken, und solange sie nicht volljährig war, konnte sie nicht einmal was dagegen tun. Schon die Bezeichnung als Kurzentrum empfand Kami als eine Lüge. Sie sah in diesen Einrichtungen nach wie vor das, als das man sie früher bezeichnet hatte. Fettcamps. Im Grunde waren sie auch nichts anderes, doch nachdem der Ausdruck derart negativ interpretiert werden konnte, hatte der Gesetzgeber ihn einfach aus dem Gesetz gestrichen und den Gebrauch ein Jahr später sogar unter Strafe gestellt. Die meisten Leute hatten das einfach hingenommen, ja vielmehr die Entscheidung sogar richtig geheissen. Es war immerhin zum Wohle aller.
Tatsächlich erinnerte sich Kami nur sehr ungern an ihre bisherigen Aufenthalte in einem dieser Kurzentren. Zweimal hatten ihre Eltern sie bereits in ein solches geschickt, da ihrer Stoffwechselerkrankung mit herkömmlichen Methoden einfach nicht beizukommen war. Der Aufenthalt in einem solchen Kurzentrum schien somit die letzte Hoffnung, doch noch etwas aus Kami zu machen, und so hatten sie bereitwillig die Unsummen, die ein solcher Aufenthalt kostete, bezahlt. Kami wurde schon beim bloßen Gedanken daran, wie sich dieser gestaltete, schlecht. Den ganzen Tag mussten die Patienten essen, bis zum Umfallen und dann noch mehr. Die Behandlung dauerte jedes Mal sechs Wochen. Natürlich lief alles unter ärztlicher Aufsicht ab, so dass es den Anschein einer Behandlung erwecken sollte. In Wahrheit aber konnte man es viel eher mit einem Umerziehungslager vergleichen. Wer sich nicht den Anweisungen des Personals beugte, wurde bestraft. Und welche Strafe lag in einer solchen Einrichtung wohl näher, als noch mehr essen zu müssen, nötigenfalls auch durch Zwangsernährung?
Das Schlimmste an der Situation war aber eigentlich, dass es so sinnlos war. Natürlich hatte Kami bei ihren Kuren jeweils einige Kilos zugelegt. Selbst ihr Körper konnte nicht so viele Kalorien verbrennen, wie dort zu sich genommen werden mussten. Trotzdem hatte sie beide Male nicht einmal 10 Kilogramm zugenommen, die sie im Anschluss an die Behandlung auch sehr schnell wieder abgenommen hatte. Ausserhalb der Fettcamps war es praktisch nicht möglich, eine Kalorienzufuhr in dem dort praktizierten Ausmaß beizubehalten. Ganz davon abgesehen, dass Kami das auch nicht wollte. Kami hätte zwar gelogen, wenn sie behauptet hätte, nicht gerne zu essen. Aber das bedeutete nun mal nicht, dass sie sich jeden Tag vollstopfen wollte, bis sie fast das Gefühl hatte, platzen zu müssen, nur damit sie endlich fett wurde.
Dementsprechend schlecht gelaunt war Kami, als ihre Eltern sie wenig später aus ihrem Zimmer holten und sich auf den Weg zum Kurzentrum machten. Es lag zwar ein bisschen ausserhalb der Stadt in einem ländlichen Gebiet, doch dank der Aerobahn war es gut zu erreichen. Auf dem Weg dorthin sprach Kami kein Wort mit ihren Eltern. Sie war immer noch sauer, hatten diese ihr doch erst vor wenigen Tagen mitgeteilt, dass sie Kami zu einer weiteren Behandlung angemeldet hatten. Wie eine Besessene hatte Kami getobt und mit ihren Eltern gestritten, doch deren Entschluss stand fest. In ein paar Jahren würde sie ihnen noch dankbar sein, hatten sie gesagt. Anstatt zu toben solle sie sich lieber ein Beispiel an ihrer Schwester nehmen. Immerhin brachte die auch ohne ärztliche Hilfe mittlerweile mehr als 150 Kilogramm auf die Waage. Bei dem Vergleich hätte Kami beinahe gelacht, wenn sie nicht so verzweifelt gewesen wäre. Im Gegensatz zu Kami war ihre Schwester alles andere als unglücklich mit ihrer Situation. Ihr war es immer leicht gefallen, zuzunehmen, und selbst nachdem sie das gesetzlich vorgeschriebene Mindestgewicht erreicht hatte, hatte sie nicht aufgehört, sich weiter zu mästen. Wenn Kami ehrlich war, so konnte sie sich nicht daran erinnern, wann sie ihre Schwester das letzte Mal gesehen hatte, ohne dass diese gerade etwas aß.
Traurig blickte Kami aus dem Fenster der Aerobahn. Die Landschaft raste an ihr vorbei und sie konnte kaum etwas erkennen, alles verschwamm zu einem Farbenbrei aus den Grün und Gelbtönen der Felder und dem Blau des Himmels. Kami betätigte die Taste für den Bildstabilisator, so dass wenigstens die Umrisse etwas stärker hervortraten. Noch wusste sie nicht, wie sie die nächsten sechs Wochen durchstehen sollte. Das letzte Mal hatte sie bereits nach vier Tagen jeglichen Widerstand aufgegeben und die Prozedur über sich ergehen lassen. Beim ersten Mal hatte sie sich noch länger gewehrt, denn damals hatte sie noch nicht gewusst, wozu das Personal fähig war. Fast zwei Wochen hatte sie stand gehalten und immer nur das nötigste gegessen. Nachdem sie so aber nicht ein Gramm zugenommen hatte, hatte man sie auf die Intensivstation verlegt. Angewidert verzog Kami ihren Mund, als sie daran dachte, was sie dort durchmachen hatte müssen. Am Ende jedenfalls hatte sie zehn Kilo zugenommen, was gemessen an den üblichen Erfolgen in den Kurzentren weit unter dem Durchschnitt lag. Kami aber hatte sich einfach nur noch furchtbar gefühlt. Ihr Magen hatte ihr zwei Monate danach immer noch Probleme bereitet, nachdem er die praktisch pausenlose Überdehnung nur mit Mühe überstanden hatte.
Wenig später hielt die Aerobahn und Kami und ihre Eltern hatten ihr Ziel erreicht. Man hatte die Station inmitten des Krankenhauszentrums errichtet, so dass man praktisch nur auf diesem Wege herein oder heraus kommen konnte. In der Vergangenheit hatte es mehrfach Fluchtversuche von Patienten gegeben, und insbesondere, nachdem die Regierung das Laufen unter Strafe gestellt hatte, hatte sich deren Verfolgung im offenen Gelände rund um die Kurzentren als schwierig erwiesen. Die wenigen Ausnahmen, die das Gesetz zuließ, galten nur für die Sportpolizei, doch die kümmerte sich eigentlich nur um schwer wiegende Verbrechen. Die Flucht aus einem Kurzentrum stellte lediglich ein Vergehen dar, so dass die behandelnden Ärzte im Prinzip auf die freiwillige Rückkehr des Patienten angewiesen waren. Ausnahmen galten nur für zwangsweise eingewiesene Patienten, bei denen die Flucht durchaus mit einer mehrjährigen Haftstrafe in einem Kurzentrum geahndet wurde.
Missmutig folgte Kami ihren Eltern zur Aufnahmestation. Kami’s Vater wurde gebeten, einige Formulare für die Versicherung und Krankenkasse auszufüllen, dann wurde Kami auf ihr Zimmer gebracht. Ihre Eltern durften sich noch von ihr verabschieden, wurden allerdings angewiesen, dies schnell zu tun. In einem solch akuten Unternormgewichtsfall, wie er bei Kami vorlag, war es nach Ansicht des zuständigen Arztes nötig, sofort mit der Behandlung zu beginnen. Nicht zuletzt, weil auch Kami’s Behandlungsprozess in die Statistik mit einfloss, und Patienten wie Kami waren in keinem der Krankenhäuser gern gesehen. In den allermeisten Fällen wirkten sie sich negativ auf die Statistik und damit auf die weitere Finanzierung des jeweiligen Kurzentrums aus. Die erfolgreich verlaufenen Behandlungen hingegen wurden landesweit publik gemacht, so dass potentielle Patienten sich dann für dasselbe Krankenhaus entscheiden würden.
Nachdem Kami’s Eltern sich mehr oder weniger emotionslos von ihrer Tochter verabschiedet hatten, stand für Kami bereits das erste Behandlungsgespräch an. Kami wurde von einem Bruder abgeholt. Bruder, so nannte man die in den Kurzentren beschäftigten Pfleger. Die meisten davon waren nicht viel mehr als primitives Überwachungspersonal, und etwas mehr als die Hälfte von ihnen besaß eine Ausnahmegenehmigung, die ihnen erlaubte, ihr Gewicht unter dem gesetzlich vorgeschriebenen Mindestgewicht zu halten. Dafür mussten sie sich verpflichten, an diversen Trainigskursen teilzunehmen, um im Bedarfsfall gegenüber den Patienten auch einmal härter durchgreifen zu können. Kami’s Bruder stellte sich wortlos als Janus vor, indem er auf das an seiner Arbeitskleidung angebrachte Namensschild zeigte. Er war fast zwei Kopf größer als Kami und hatte einen überaus muskulösen Oberkörper, was darauf schließen ließ, dass er zudem eine Sportlizenz besaß. Kami schluckte, denn sie wusste nur zu gut, was das bedeutete. Man würde sie hier keinesfalls mit Samthandschuhen anfassen. Vielleicht hatte man sich sogar die Akten ihrer beiden letzten Behandlungen zusenden lassen. Janus führte Kami zu einem Raum im Hauptgebäude, wies sie dann an, sich auf den Stuhl zu setzen und auf den Arzt zu warten. Er selbst blieb hinter Kami stehen. Wenige Minuten später betrat der Arzt das Zimmer, ein kleiner, etwas älterer Mann. Er mochte gut und gerne 170 Kilogramm auf die Waage bringen.
"Hallo, freut mich dich kennen zulernen." meinte er und setzte ein freundliches, aber falsches Lächeln auf. "Mein Name ist Hans Sommerfeldt. Gut, dann wollen wir mal sehen." meinte er und ließ sich schwer in seinen gepolsterten Sessel fallen. Er nahm sich die vor ihm liegende Patientenakte und warf einen Blick hinein. "So so…, Kami also. Bisher zwei Aufenthalte, einmal bei der Fatlife AG und einmal in einer unserer eigenen Kliniken. Mal sehen…."
"Doktor, ich glaube nicht, dass ich hier richtig bin. Ich würde lieber…" begann Kami, doch Sommerfeldt hob die Hand und deutete ihr so, zu schweigen.
"Ich kann dir versichern, dass du hier richtig bist. Sieh dich doch nur mal an." meinte er mit ernster Stimme. Dann sprach er weiter, etwas lockerer: "Davon abgesehen, das Doktor ist nicht nötig."
Auch das noch! Man hatte Kami einem Freidienstler überstellt. Viele der Krankenhäuser waren dazu übergegangen, bei der Anstellung von Ärzten auf eine spezielle Ausbildung zu verzichten. Freidienstler bekamen ein bei weitem nicht so hohes Gehalt, und sie erfüllten ihre Aufgabe in den meisten Fällen ebenso gut. Gleichzeitig waren sie aber dafür bekannt, wenig Rücksicht auf den Gesundheitszustand der Patienten zu nehmen. Allmählich dämmerte Kami, dass sie dieses Mal das ganz große Los gezogen hatte…
"Gut, ich würde sagen, wir beginnen mit 28,000. Das sollte in den ersten Tagen genügen, falls nicht, dann können wir die Dosis immer noch erhöhen. Ganz sicher bin ich mir allerdings nicht, du bist immerhin bereits zweimaliger Kurversager. Normalerweise stecken wir Patienten wie dich gleich in die Intensivstation, aber die ist momentan überbelegt. Ich gebe dir also einen gut gemeinten Rat: halte dich an den Ablauf, oder ich muss die Behandlung intensivieren." Er lächelte, so als habe er gerade einen guten Witz erzählt. "Nun ja, ich denke wir sollten auch gleich anfangen. Janus hier wird dich nach drüben in den Behandlungssaal bringen, wir beide sehen uns dann morgen." Damit streckte er Kami seine Hand entgegen. Kami zögerte erst, ihm die Hand zu reichen, aber andererseits wollte sie nicht gleich am ersten Tag negativ auffallen, und so verweigerte sie den Handschlag dann lieber nicht. Janus deutete Kami, ihm zu folgen, und die beiden verließen das Zimmer von Sommerfeldt.
Der Weg zum Behandlungssaal war nicht sehr weit. Kami und Janus benötigten nicht einmal zwei Minuten, ehe sie ihn erreichten. Der Saal maß etwa 100 Schritte in der Länge und 40 in der Breite, und in ihm standen drei Tischreihen sowie die dazugehörigen Sitzbänke. Die meisten Plätze waren bereits belegt, von anderen Patienten, die sich bereits in der Behandlung befanden. Kami ließ kurz ihren Blick durch den Raum schweifen. Der Großteil der Patienten war deutlich fülliger als sie, und nur wenige waren überhaupt so dünn wie Kami selbst. Kami kannte das aus ihren früheren Aufenthalten. Die meisten, die hier her kamen, waren bereits übergewichtig, holten sich jedoch für die letzten Kilos, die sie noch zulegen mussten, professionelle Hilfe. Es gab auch einige, die das gesetzliche Mindestgewicht eigentlich schon deutlich überboten, die sich aber rein des Vergnügens wegen einweisen ließen. Ganz anders sah es wieder mit den Zwangseingewiesenen aus, zu denen man Kami wohl auch hätte zählen müssen, wenn nicht ihre Eltern sie angemeldet hätte. Diese Gruppe jedenfalls zeichnete sich dadurch aus, dass keiner daraus freiwillig hier war sondern stattdessen den gesamten Vorgang aus dem einen oder anderen Grund als absurd betrachtete. Und wohl das Kurzentrum sofort verlassen hätte, wenn sich die Möglichkeit dazu ergeben hätte.
Bevor Kami sich auf einen der freien Plätze setzen durfte, musste sie sich noch umziehen und die Anstaltskleidung anlegen. Für die Patienten bestand diese aus einem langen Oberhemd, das bis unter die Knie herab reichte. Darunter waren die Patienten nackt, für den Fall, dass eine ärztliche Notmaßnahme erforderlich würde. Nachdem Kami die Anstaltskleidung angelegt hatte, wurde sie von Janus an einen der freien Plätze geführt. Kami setzte sich, und ein anderes Mitglied des Krankenhauspersonals trat auf sie zu.
"Welche Dosis hat man dir verschrieben?" fragte der Bruder, der Kami abfällig von oben bis unten musterte.
"28,000." gab Kami zur Antwort, obwohl sie gerne eine kleinere Zahl genannt hätte.
"28,000? Das scheint mir fast ein bisschen wenig." zweifelte der Bruder und warf einen Blick auf Janus, der jedoch bestätigend nickte. "Also gut, es scheint wohl zu stimmen. Bleib hier sitzen, ich komme gleich wieder."
Der Bruder entfernte sich, und Kami hatte nun einen kurzen Augenblick, die Patienten um sich herum zu mustern. Kami saß am Tischende, so dass sie nicht viele Nachbarn hatte. Rechts von ihr saß eine junge Frau in ihrem Alter, die allerdings mindestens 20 Kilogramm mehr auf die Waage brachte, obwohl sie etwas kleiner als Kami war. Der Platz ihr gegenüber wurde von einem jungen Mann mit blondem Haar eingenommen. Er war offensichtlich ebenfalls noch nicht zu lange hier, da er ziemlich schlank war. Er hatte den Blick gesenkt und konzentrierte sich darauf, seinen Teller leer zu essen.
"So, hier. Fang an." meinte der Bruder von vorhin, der gerade zurück kam. Er setzte Kami einen mit irgendeinem Brei gefüllten Teller vor, der sich zu einem kleinen Berg auftürmte.
Widerwillig nahm Kami den für sie bereitliegenden Löffel und begann zu essen. Sie hatte zwar keine Lust und eigentlich auch keinen Hunger, aber sie wusste, dass sie gar keine andere Möglichkeit hatte. Entweder sie würde essen und damit diese Behandlung annehmen, oder sie würde schon heute negativ auf fallen und sehr schnell die Konsequenzen für ihren Ungehorsam zu spüren bekommen. Wenigstens schmeckte der Brei ziemlich gut, viel besser als das Essen, das Kami bei ihren früheren Aufenthalten vorgesetzt worden war. Sie konnte zwar nicht genau sagen, wonach der Brei schmeckte, aber ganz offensichtlich hatte man eine Menge Geschmacksmuster dazu gegeben, die den hohen Zucker- und Fettgehalt verschleiern sollten.
In den nächsten vier Stunden tat Kami nichts anderes als zu essen. Wann immer sie ihren Teller geleert hatte, kam einer der Brüder und setzte ihr sogleich den nächsten, wieder gut gefüllten vor. Ab und zu konnte sie sich eine kurze Pause gönnen, die sie nach einigen Portionen auch jedes Mal ein wenig nötiger hatte. 28,000 Kalorien aufzunehmen war schließlich alles andere als leicht. Selbstverständlich hätte es Möglichkeiten gegeben, ihr einfach eine Mahlzeit aus gentechnisch behandelten Lebensmitteln vor zusetzen, die schon nach wenigen Bissen die erforderliche Menge Kalorien geliefert hätte. In der Tat hatte man zu Beginn der Behandlungsprogramme auf solche Speisen zurückgegriffen. Es hatte sich allerdings herausgestellt, dass sie aus mehreren Gründen nicht für die vorgesehene Zwangsmast geeignet waren. Zum einen waren die künstlich geschaffenen Kalorienträger bei weitem nicht so effektiv, wie man zunächst vermutet hatte. Ganz offensichtlich gab es eine Art psychische Barriere, die die Patienten daran hinderte, zuzunehmen, wenn sie nur geringe Mengen aßen – egal wie kalorienreich diese waren. Ganz davon abgesehen sollte die Behandlung auch langfristig Erfolg haben und es den Patienten ermöglichen, anschließend selbständig weiter zuzunehmen. Das erforderte natürlich auch, dass die Patienten im Alltag damit fortfuhren, derartige Mengen an Kalorien aufzunehmen. Genetisch veränderte Mahlzeiten waren aber nicht nur ineffektiv, sondern auch teuer, und nur wenige konnten sie sich leisten. Sie mussten daher auf normale Nahrungsmittel zurückgreifen, und das bedeutete auch, dass die jetzt auf sich selbst gestellten Patienten davon viel mehr essen mussten. Es hatte sich gezeigt, dass das den Patienten viel leichter gefallen war, wenn schon während der Behandlung ihr Magen auf ein vielfaches seiner normalen Größe ausgedehnt worden war und sie sich so an größere Nahrungsmengen gewöhnt hatten. Im Endefeffkt dienten die riesigen Portionen, die bei der Behandlung gegessen werden sollten, vor allem einem Ziel: dem Verlust des Gefühls für Appetit und Sättigung.
Dass das gerade in den ersten Tagen eine richtige Tortur werden konnte, merkte Kami relativ bald. Sie hatte nicht gezählt, wie viele Portionen des Mastbreis sie schon essen müssen hatte, doch irgendwann merkte sie, dass ihr Magen wegen der abnormalen Füllung zu schmerzen begann. Unter ihrem Oberhemd zeichnete sich ihr voller Bauch nach jeder geschafften Portion ein wenig mehr ab, und Kami fiel es immer schwerer, weiter zu essen. Sie hatte aber gar keine andere Wahl, denn die Brüder gaben ihr unnachgiebig Nachschub, solange, bis sie ihr Kaloriensoll erreicht haben würde. Dass Kami und die anderen Patienten überhaupt derartige Mengen schaffen konnten lag auch daran, dass der Brei natürlich einige Zusätze enthielt, die schmerzmindernd wirkten und das Sättigungsgefühl soweit wie möglich ausschalten oder wenigstens verzögern sollten. Trotzdem erreichte Kami irgendwann den Punkt, an dem sie einfach nicht einen Bissen mehr in ihren Körper hätte zwängen können. Zu ihrer großen Erleichterung hatte sie zu diesem Zeitpunkt gerade ihr Kaloriensoll geschafft, und so lehnte sie sich nur völlig überfressen zurück und versuchte ihre Gedanken auf etwas anderes als ihren überfüllten Wanst zu lenken. Mehr oder weniger teilnahmslos saß Kami so eine Weile da, während ihr Körper damit begann, das eben Gegessene zu verdauen.
Kami wurde schließlich von Janus vorsichtig, damit ihr ja nicht schlecht wurde und sie sich übergeben musste, in einen Hoverstuhl gesetzt. Janus brachte Kami dann zurück in ihr Zimmer. Janus, der den ganzen Tag noch nicht ein Wort gesprochen hatte, sagte auch jetzt nichts, und so waren die ächzenden und gurgelnden Laute aus Kami’s Magen die einzigen Geräusche neben dem leisen Surren des Hoverstuhls, das dieser mit den Schwebedüsen erzeugte.
In dieser Nacht schlief Kami nicht besonders gut. Ihr Körper mühte sich damit ab, irgendwie die unglaublichen Nahrungsmengen, die sie in sich hinein gestopft hatte, zu verdauen, und selbst wenn Kami ab und an in einen kurzen, unruhigen Schlaf verfiel, so war dieser nicht erholsam. Immer wieder träumte sie davon, wie sie heute so dagesessen und gefressen hatte, und sie träumte auch davon, was man bei ihren früheren Aufenthalten mit ihr gemacht hatte, wenn sie die Behandlungsanweisungen verletzt hatte. Das waren die schlimmsten Träume, und als Kami am nächsten Morgen zum täglich anstehenden Gespräch mit dem behandelnden Arzt abgeholt wurde, da fühlte sie sich wie gerädert. Nach einer kurzen Untersuchung ging es aber sogleich wieder in den Behandlungssaal, wo Kami wie am Tag zuvor gezwungen war, sich bis zum Platzen zu überfressen. Auch der nächste Tag unterschied sich nicht davon, genau sowenig er übernächste und der Tag darauf.
Kami hatte sich mittlerweile mit ihren Tischnachbarn bekannt gemacht, zumindest mit dem jungen Mann, der ihr gegenüber saß. Die Frau zu ihrer rechten Seite schien kein großes Interesse daran zu haben, die Bekanntschaft von Kami zu machen. Vermutlich war Kami ihr schlicht zu dünn, und mit solchen Leuten gab man sich einfach nicht ab. Alain, der Kami gegenüber saß, sah das verständlicherweise anders, da er selbst auch zu den schlankeren Patienten gehörte. Kami und Alain waren schnell miteinander ins Gespräch gekommen, ein Umstand, der den behandelnden Ärzten und den überwachenden Brüdern grösstenteils Recht war. Immerhin war seit langem bekannt, dass Gespräche beim Essen ablenkend wirkten, und die Patienten auf diese Art und Weise mehr essen würden. Lediglich wenn die Gespräche in eine Richtung liefen, die der Behandlung abträglich wäre, dann griffen die Brüder ein und beendeten das Gespräch. Manchmal setzten sie die Gesprächspartner auch auseinander, und im schlimmsten Fall gab es auch die Möglichkeit, dass dennoch unfolgsame Patienten einer Sonderbehandlung durch die Brüder unterzogen wurden. Trotz allem gab es einige Patienten, die sich auch über diejenigen Dinge unterhalten konnten, die in der Kur nicht erwünscht waren. Gerade unter solchen Patienten, die nicht das erste Mal in einem solchen Krankenhaus waren, gab es eine Art Insider-Sprache, die es ihnen ermöglichte, auch verbotene Themen anzusprechen. Kami beherrschte diese Sprache, und Alain beherrschte sie auch. Genau wie sie hatte er diese in einem seiner früheren Aufenthalte zum ersten Mal gehört, und in weiser Voraussicht, möglicherweise noch einmal eingewiesen zu werden, hatten beide sich diese Insidersprache über das Netz angeeignet. So konnten Kami und Alain untereinander über alles sprechen, was natürlich dennoch riskant war, da ja auch das Krankenhauspersonal Zugang zum Netz hatte. Ein gewisses Risiko war mit der Insidersprache immer verbunden, deswegen veränderte sie sich oft und schnell. Nur diejenigen Patienten, die keinen N.A.-Chip implantiert hatten, brauchten nichts befürchten. Allerdings waren das nur die wenigsten, da dieser Chip nicht nur den Zugang zum Netz ermöglichte, sondern zudem in einem beschränkten gesetzlich zugelassenen Rahmen Gedanken- und nötigenfalls auch Handlungskontrolle zuließ, weswegen er den meisten gleich nach der Geburt eingepflanzt wurde. Schon seit einigen Jahren hatte es aber kein offizielles Kontrollierungsgesuch der Regierung mehr gegeben, so dass der Chip heutzutage fast ausschließlich für das Netz genutzt und davon abgesehen rein vorsorglich eingepflanzt wurde. Nur im Strafvollzug erfreuten sich die anderen Einsatzmöglichkeiten des Chips nach wie vor großer Beliebtheit, da das Verfahren in diesem Bereich relativ unbürokratisch geblieben war.
Aufgrund der Gespräche, die Kami mit Alain so in den letzten Tagen geführt hatte, wusste sie nun einiges über ihn. Alain, der nur ein Jahr älter als Kami war, war wie sie selbst nicht freiwillig hier. Anders als Kami war Alain aber nicht einmal auf Wunsch seiner Eltern bzw. seiner Muter hier – sein Vater war bereits vor einigen Jahren an seinem Übergewicht verstorben -, sondern er war von einem Nachbarn aus dem Wohnhaus, in dem er und seine Mutter lebten, angezeigt worden, nachdem er öffentlich zugegeben hatte, gegen das BMI-Stabilisierungsgesetz verstoßen zu haben. Man hatte Alain zu drei Jahren Haft verurteilt, die er nun hier absitzen musste. Kami wusste auch, dass Alain fest entschlossen war, auszubrechen. Darüber hatten sie aber nicht weiter gesprochen, da es einfach zu riskant war. So drehten sich ihre Gespräche die meiste Zeit um mehr oder weniger belanglose Dinge, während beide darauf warteten, dass die Zeit, die sie hier verbringen würden müssen, vorüber ging. Wenn Kami ihre Situation von der mit Alain verglich, so hatte sie wirklich Glück, nur sechs Wochen hier sein zu müssen. Sie mochte sich gar nicht ausdenken, was nach drei Jahren aus ihr geworden wäre. Noch zeigte das ständige Essenmüssen keine Folgen, was hauptsächlich an Kami’s Stoffwechselerkrankung lag. Allerdings war Kami bewusst, dass das nicht mehr lange so bleiben würde, spätestens in zwei, vielleicht auch drei Tagen würde Sommerfeldt ihre Dosis nach oben setzen. Auch wenn sie in den letzten Tagen ihren Magen langsam an derartige mengen gewöhnte, der Gedanke daran, noch mehr essen zu müssen, bereitete Kami Sorge. Bei ihren letzten Aufenthalten war es soweit gegangen, dass sie zum Schluss fast 60,000 Kalorien am Tag hatte aufnehmen müssen. Damals hatte sie am Ende jeden Tages das Gefühl gehabt, sterben zu müssen. Glücklicherweise war es nicht dazu gekommen.
Weniger glücklich verlief allerdings das nächste Behandlungsgespräch mit Sommerfeldt. Viel früher, als Kami es befürchtet hatte, entschied er, ihr Kaloriensoll herauf zu setzen. Er erhöhte ihr Soll um 8,000, so dass Kami nun jeden Tag 36,000 Kalorien zu sich nehmen sollte. Kami widersprach zwar der Anordnung des Arztes, doch der war erwartungsgemäß unnachgiebig und drohte nur, ihr Soll noch weiter zu erhöhen, wenn Kami sich nicht folgsam zeigen würde. Kami traute Sommerfeldt nicht nur zu, dass er das tun würde. Sie wusste, dass er es in einigen Tagen ohnehin tun würde, damit die Behandlung endlich anschlagen würde. Es hatte also keinen Sinn, zu diskutieren, das Einzige was Kami blieb, war, die nächste Erhöhung ihres Solls so lange wie möglich hinaus zu zögern.
Alain fiel die schlechte Stimmung, mit der Kami sich ihm an diesem Tag gegenüber setzte, sofort auf. Sie erzählte ihm von Sommerfeldts Maßnahme und beantwortete so seine nicht gestellt Frage. Kami tat ihm wirklich leid. Er selbst hatte ein Kaloriensoll von 32,000 Kalorien zugeteilt bekommen, aber er war immerhin auch ein Mann und deutlich größer als Kami. Wie diese junge Frau sogar noch mehr in sich hineinstopfen sollte, war Alain ein Rätsel, doch es bestätigte einmal mehr seine Abneigung, die er gegen diese Krankenhäuser hatte. Wenn er ehrlich war, dann beschränkte seine Abneigung sich aber nicht darauf, sondern sie richtete sich gegen das System als solches. Das war auch ein Grund, weswegen er hier war. Wütend dachte er daran zurück, wie er bei der Demonstration verhaftet worden war, nachdem er ein Banner mit der Aufschrift "Mein Körper gehört mir" hochgehalten hatte.
Kami hatte unterdessen ihren verzweifelten Versuch gestartet, ihr Tagessoll zu erfüllen. Sie schlug sich tapfer, leerte Teller um Teller, bis ihr Bauch sich prall gefüllt zu wölben und sie ein immer stärker werdendes Völlegefühl zu verspüren begann. Bei derartigen Mengen halfen auch die chemischen Zusätze, die ein solches eigentlich verhindern sollten, nur noch wenig, und so kam es, dass Kami nach beinahe 5 Stunden ununterbrochener Nahrungsaufnahme aufgeben wollte, ja eigentlich musste. Sie hatte knapp 34,000 Kalorien geschafft, ein unglaubliche Menge selbst für Patienten, die deutlich dicker als sie waren. Und dennoch war es zu wenig, als dass sie das von Sommerfeldt verlangte Soll erfüllt hätte.
Als einer der Brüder Kami einen weiteren, gut gefüllten Teller mit dem Mastbrei vorsetzte, da schob Kami diesen satt von sich.
"Tu’ das nicht!" zischte Alain ihr kaum hörbar zu. "Nicht aufgeben, Kami!"
Kami schüttelte nur den Kopf, aber es war schon zu spät. In dem Moment, in dem sie den Teller von sich geschoben hatte, war Janus nach vorne getreten und hatte ihr eine Hand auf die rechte Schulter gelegt.
"Was soll das werden?" fragte Janus ruhig. Es war das erste Mal, dass er etwas zu Kami sagte.
"Es tut mir leid, aber ich kann einfach nicht mehr…" gab Kami ehrlich und erschöpft zur Antwort. "Noch ein Bissen mehr, und ich platze…"
"Die Behandlung ist noch nicht abgeschlossen." stellte Janus fest. "Iss weiter."
"Ich habe doch gerade gesagt, es geht nicht…" erklärte Kami noch einmal.
"In Ordnung." antwortete Janus. "Dann tut es mir leid." log er und hob Kami erst von ihrem Platz und verfrachtete sie dann unsanft auf einen der Hoverstühle, mit denen die Patienten hier nach der täglichen Völlerei befördert wurden.
Kami merkte, wie ihr durch die Bewegung schlecht wurde, und sie hatte das Gefühl, sich jeden Moment übergeben zu müssen. Dazu kam es jedoch nicht, denn mit einem Mal verspürte Kami einen stechenden Schmerz in ihrem Kopf und sank bewegungsunfähig in ihrem Hoverstuhl zurück.
Als Kami wieder zu sich kam, lag sie in ihrem Bett in ihrem Krankenzimmer. Ihre Handgelenke waren an das Bett gefesselt, und auch ihre Beine waren arretiert worden, so dass sie sich kaum bewegen konnte. Nur ihren Kopf konnte sie etwas nach links oder rechts drehen und sogar ein wenig heben. Kami öffnete vorsichtig ihre Augen, erkannte nur Farbmuster ohne Umrisse. Mehr war jedoch auch nicht nötig, sie wusste auch so, was geschehen war. Insbesondere, weil ihr Magen fast unerträglich schmerzte. Diese Schweine!
Ganz langsam gewöhnten sich Kami’s Augen wieder an die Wirklichkeit, und allmählich kehrte auch die Erinnerung an das zurück, was sie mit ihr gemacht hatten. Es dauerte immer eine Weile, ehe der N.A.-Chip die Informationen nach einer Kontrollübernahme verarbeitet hatte und an das Gehirn weitergab, aber Kami wusste auch so, was sich vor ihrem geistigen Auge gleich abspielen würde. Als sie es dann aber tatsächlich sah, da fühlte sie eine ungeheure Wut in sich, und eine Träne lief ihr die Wange hinab.
Der plötzliche Kopfschmerz hatte genau in dem Moment eingesetzt, in dem Janus den N.A.-C. aktiviert hatte. Damit hatte Kami jegliche Kontrolle über ihren Körper und ihren Geist verloren, so dass sie keinerlei Einfluss auf die weitere Behandlung gehabt hatte. Janus hatte sie anschließend in die Notbehandlung gebracht. Dort hatte man Kami auf einem speziellen, extra für diese Fälle vorgesehenen Stuhl fest geschnallt und ihr dann über den Chip den Befehl gegeben, die folgende Zwangsernährung nicht nur über sich ergehen zu lassen, sondern sogar noch selbst durchzuführen. Wieder hatte man ihr den Mastbrei angeboten, und dieses Mal hatte sie ihn dank der Kontrolle durch den Chip ohne jedwede Gegenwehr angenommen. Fast wie eine Maschine hatte Kami einfach ihren Löffel immer wieder und wieder zum Teller und dann in ihren Mund geführt, solange, bis sie unzählige Portionen des Breis in ihren Magen gestopft hatte. Alles in allem hatte man sie so gezwungen, weit mehr als die fehlenden 2,000 Kalorien zu sich zu nehmen. Wie viel genau es gewesen war, diese Information verschwieg der N.A.-C. ihr. Kami konnte sich nur noch daran erinnern, wie sie trotz des trance-ähnlichen Zustandes, in den die Übernahme durch den Chip sie versetzt hatte, wahrgenommen hatte, wie ihr Magen sich zu nahezu irrsinnigen Proportionen ausgedehnt hatte.
Glücklicherweise hatte sie in diesem Moment die Warnungen, die ihr Körper ihr in diesem Moment signalisiert hatte, nicht bewusst wahrgenommen, aber dafür fühlte sie sich jetzt, als hätte sie Wackersteine im Leib. Kami hob ganz vorsichtig den Kopf und blickte an sich herab. Unterhalb ihrer Brüste erhob sich eine neue, pralle Wölbung. Wütend, enttäuscht und angeekelt lies sie ihren Kopf wieder in das Kissen zurücksinken.
Sie musste hier weg. Sie musste hier weg, und zwar schnell.
Im nächsten Gespräch mit Sommerfeldt saß Kami einfach nur da und ließ den Arzt reden. Er hatte einige mahnende Worte für Kami parat, die ganz offensichtlich den Ernst ihrer Lage nicht begriffen hatte. Die gestrige Notbehandlung habe sie sich ganz alleine zuzuschreiben, und er hoffe, dass sie in Zukunft etwas mehr Motivation aufbringen würde. Davon abgesehen war er mit dem Ergebnis des gestrigen Tages einigermaßen zufrieden, fast 3 Kilogramm mehr zeigte die Waage heute an.
Kami für ihren Teil hörte Sommerfeldt überhaupt nicht zu. Seit gestern Abend war sie fest entschlossen, von hier zu verschwinden. Ganz egal, wie. Später. Im Behandlungssaal, da würde sie Alain darauf ansprechen. Er selbst hatte gesagt, dass er ausbrechen wolle. Jetzt waren sie zwei, und das bedeutete, dass sie es vielleicht schaffen konnten.
Kami verhielt sich den ganzen Tag so unauffällig wie möglich, und so ließ sie die übliche Prozedur teilnahmslos über sich ergehen. Wie jeden Tag saß sie Alain gegenüber, und beide futterten als ginge es um ihr Leben. Wann immer sich aber ein kleiner Augenblick der Erholung bot, wechselte sie einige Worte mit Alain. Er hatte schnell begriffen, was in Kami vorging, und er konnte es nur zu gut verstehen. Kami brauchte ihm nicht einmal zu erzählen, was gestern passiert war, er wusste es auch so. Schließlich kam der Punkt, an dem Kami Alain fragen musste, ob er zusammen mit ihr verschwinden wollte. Sie mussten auf Insidersprache ausweichen, doch jeder, der aufmerksam zugehört hätte, hätte gewusst, wovon sie sprachen.
"Hast du schon einmal etwas vom Schlaraffenland gehört?" fragte Kami.
"Du meinst den Ort, wo man essen kann, soviel man will?" fragte Alain zurück. "Ich glaube, das habe ich."
"Wäre es nicht schön, wenn wir auch dort sein könnten?" sprach Kami weiter.
"Ja, das wäre schön." nickte Alain.
"In meinen Träumen bin ich schon dort gewesen, und mit meinem nächsten Traum will ich wieder dort hin." sagte Kami. Sie hatte kaum lauter gesprochen als wenn sie geflüstert hätte, denn immerhin war die ganze Sache sehr riskant. Jetzt, wo es ausgesprochen war, sogar noch mehr. Denn wenn man sie nun ertappte, dann wäre die Strafe deutlich härter als Kami’s Behandlung gestern.
"Davon möchte ich heute auch träumen." flüsterte Alain zurück. Er beendete den Satz nur eine Sekunde, bevor ein Bruder ihm seine nächste Portion Brei servierte.
Damit war es abgemacht. Heute Nacht würden Kami und Alain versuchen, zu fliehen. Bis es aber so weit war, mussten sie noch die Behandlung des heutigen Tages abschließen. Heute schaffte Kami ihr Soll. Sie war fest entschlossen, sich nie wieder in die Notbehandlung bringen zu lassen, und wenn ihre einzige Möglichkeit, das zu verhindern, darin bestand, sich bis zum Platzen zu überfressen, so würde sie dies eben tun. Den ganzen Tag lang stopfte Kami sich mit dem Mastbrei voll und sie merkte, wie sich ihr Magen wie an den Tagen zuvor langsam füllte und schließlich die Form einen Halbkugel einnahm. Nachdem sie nach vielen Stunden endlich alles geschafft hatte, was man ihr vorgesetzt hatte, da war ihr Bauch derart prall nach vorne gewölbt, dass sie beinahe aussah als wäre sie schwanger. Das viele Essen in ihrem Magen bescherte Kami erneut Bauchschmerzen und sogar einige Krämpfe, aber die würde sie durchstehen. Ihre Gedanken waren längst auf die geplante Flucht konzentriert. Irgendwann brachte Janus Kami zurück in ihr Zimmer und ließ sie allein.
Die Flucht aus einem Krankenhaus war nicht so schwer zu bewerkstelligen, wie es allgemein geglaubt wurde. Selbst diejenigen Patienten, die eine Haftstrafe verbüssten, konnten das Gelände jederzeit verlassen, auch wenn sie es eigentlich nicht durften. Nur in den wenigsten Krankenhäusern wurden die Patienten in ihren Zimmern eingeschlossen. Einer der Gründe dafür war, dass die meisten Patienten nach der Behandlung ohnehin nichts anderes mehr tun konnten als sich auszuruhen. Davon abgesehen aber würde der N.A.-C., sobald ein Patient sich aus seinem Zimmer entfernte, eine Nachricht an den krankenhausinternen Verwaltungsrechner schicken. Dieser würde die empfangenen Daten interpretieren, und je nachdem, ob Fluchtgefahr bestand oder nicht, würde er einen Bruder schicken, um den Patienten zurück in sein Zimmer zu bringen. Patienten, die beispielsweise nur auf die Toilette gingen, teilten dem Chip ganz andere Informationen mit. Die Auswertung der Daten war in den meisten Fällen zuverlässig, da der Chip ständig die Denkprozesse seines Trägers überwachte. Das war auch der Grund, weswegen alles sehr schnell gehen musste. Mit etwas Übung war es durchaus möglich, einen bestimmten Gedanken vor dem Chip zu verbergen.
Als es an der Zeit war, den Fluchtversuch zu starten, begann Kami sich ganz darauf zu konzentrieren, dass sie auf die Toilette musste. Das fiel ihr leicht, denn sie hatte in weiser Voraussicht darauf verzichtet, dieselbe früher am Tag aufzusuchen. Selbst wenn sie nun also vergessen würde, ihre Gedanken auf dieses Bedürfnis zu lenken, so würden die Daten des Chips ungenau sein, da sie zumindest unbewusst ständig auch daran denken würde. Leise schlich Kami sich aus ihrem Zimmer und ging den Krankenhausgang entlang, bis sie vor den Toiletten stand. Der Gang wurde zur Nacht nur von wenigen Lampen, die ausserdem nur schwach leuchteten, erhellt. Dennoch erkannte sie im Halbdunkel, dass Alain bereits auf sie wartete. Sie blickten einander wortlos an, da ihr Vorhaben womöglich schon jetzt zum Scheitern verurteilt würde, wenn sie miteinander gesprochen und damit ihren Plan verraten hätten. Selbst auf die Insidersprache wollten sie vorsichtshalber nicht ausweichen. Alain deutete Kami mit den Augen, ihm zu folgen, und leise machten sie sich auf den Weg nach unten.
Die Gänge im Erdgeschoss waren besser beleuchtet, aber auch hier war niemand abgesehen von Kami und Alain unterwegs. Nachts schliefen nicht nur die Patienten, sondern auch nahezu das gesamte Personal. Mit etwas Glück wären Kami und Alain schon aus dem Gebäude, ehe man ihr Verschwinden bemerkte. Ganz langsam schlichen die beiden weiter die Gänge entlang, passierten schließlich den Empfangsschalter. Auch hier war niemand zu sehen, und so wagten sie sich nach draussen.
Es war eine sternenklare Nacht, und es war immer nicht einmal so kühl, wie Kami es befürchtet hatte. Nach wie vor trugen sie und Alain ja nur die Krankenhausbekleidung, da ihre eigene Kleidung bis zum Ende des Aufenthalts aufbewahrt wurde. In den meisten Fällen erhielten die Patienten die Kleidung aber auch so nur auf Antrag zurück, da sie ihnen nach der Behandlung sowieso nicht mehr passte. Wenn ein Patient seine Kleidung zurück forderte, dann nur, weil er ein Andenken an die Zeit vor seiner Behandlung behalten wollte.
Kami und Alain hielten sich nah an den Gebäuden und vermieden es, in die Lichtkegel der Hofbeleuchtung zu treten. Es waren nur noch gute 150 Schritte, dann hätten sie die Mauer erreicht, die rund um den Krankenhauskomplex errichtet worden war. Eine Flucht mit der Aerobahn war ausgeschlossen, so dass Alain und Kami nur den Weg über die Mauer nehmen konnten. Noch 100 Schritte. Kami bemerkte, wie ihr Herz schneller zu schlagen begann. In wenigen Sekunden würde sie nur noch an die Flucht denken können, und dann würde der Chip dem Krankenhauscomputer davon berichten. Noch 50 Schritte. Schneller. Noch 20.
Kami und Alain hatten die Mauer erreicht. Sie war kaum zwei Meter hoch, aber es würde dennoch anstrengend sein, sie zu überwinden. Sowohl Alain und Kami hatten den ganzen Tag über gegessen und noch nicht alles verdaut, so dass beide immer noch mit ihren vollen, aufgeblähten Mägen zu kämpfen hatten.
"Ich helfe dir hoch." brach Alain das Schweigen und informierte damit den Chip von ihrem Vorhaben. Er zog Kami an sich heran und machte eine unbeholfene Bewegung, die dennoch kräftig genug war, um Kami so hoch zu heben, dass sie sich nahezu mühelos über die Mauer würde ziehen können. Nachdem Alain Kami hoch geholfen hatte, sprang er selbst und griff mit beiden Händen nach der Kante. Dann zog er sich mit aller Kraft nach oben, und mit Kami’s Hilfe – sie nahm seinen rechten Arm und zog so fest sie konnte – schaffte auch er es.
Der Krankenhauskomplex wurde ringsum von einem dichten Wald umschlossen. In der Nacht war es nahezu unmöglich, darin zu sehen, doch Kami und Alain würden ihn durchqueren müssen. Und das besser schnell, denn in diesem Moment wurde die Tür des Hauptgebäudes aufgerissen und zwei Brüder stürmten heraus. Der eine war Janus, der andere musste Alains Pfleger gewesen sein.
"Schnell jetzt!" rief Alain.
Kami und Alain sprangen von der Mauer und landeten unsanft auf dem Boden. Alain stand als erster wieder auf und zog Kami nach oben, dann humpelten sie einige Schritte, bis sie schließlich begannen, so schnell wie möglich in den Wald zu laufen. Janus und der andere hatten sich inzwischen im Laufschritt dorthin begeben, wo Kami und Alain vor wenigen Sekunden über die Mauer geklettert waren. Sie würden sie gleich eingeholt haben, wenn Alain und Kami sich nicht beeilten. Alles was jetzt zählte, war schnellstmöglich so weit es ging in den Wald hinein zu kommen. Je weiter sie sich von dem Krankenhauskomplex entfernten, desto ungenauer wurden die Daten, mit denen der N.A.-C. dem Krankenhauscomputer ihre Position mitteilte.
So schnell die beiden nur konnten und so schnell es ihre überfüllten Leiber zuließen, stolperten Kami und Alain durch die Dunkelheit des Waldes. Kami’s Gedanken überschlugen sich. Gleich hatten sie es geschafft! Alain und sie wären wieder frei! Irgendwo hinter ihnen stiegen Janus und der andere über die Mauer. Alain lief vor ihr und sie schaffte es mit viel Mühe, mit ihm mitzuhalten. Wie viele Gesetze sie gerade brachen! Sie liefen! Sie waren ausgebrochen! Immer wieder blickte Kami sich um. Die Mauer des Krankenhauskomplexes war schon nicht mehr zu sehen, und auch ihre Verfolger nicht. Noch wenige Meter, und sie hätten es geschafft. Hinter sich hörten Kami und Alain die Rufe ihrer Verfolger. Doch sie blieben nicht stehen, liefen weiter.
Sie schafften es. Alain und Kami rannten, bis ihre Lungen schmerzten und ihnen Batteriesäure durch die Adern floss, doch sie schafften es. Sie hatten ihre Verfolger abgehängt, und selbst, wenn sie noch nach ihnen suchen würden, so würden sie sich in der Dunkelheit vor ihnen verstecken können. Sie hatten es geschafft.
Am nächsten Morgen schlenderten Alain und Kami ein der wenigen Straßen entlang, die es noch gab. Die meisten Straßen waren schon vor vielen Jahren nutzlos geworden, doch diese hier hatte man nicht abgerissen, beinahe so, als hätte sie nur darauf gewartet, Alain und Kami als Weg zu dienen. Die ganze Nacht über waren sie gelaufen, hatten irgendwann den Wald verlassen und dann irgendwann Felder gesehen. Sie waren über die Felder geschritten, bis sie irgendwann eine Rast einlegen hatten müssen. Dann, als die Sonne aufging, machten auch Kami und Alain sich wieder auf den Weg. Sie hatten diese Straße entdeckt, die sie nun seit nahezu zwei Stunden entlang gingen. Ob man wohl nach ihnen suchte? Bestimmt, doch das zählte nicht.
Obwohl die Straße sicher schon seit Jahren nicht mehr genutzt wurde, waren doch hier und da elektronische Werbetafeln aufgestellt. Alain und Kami passierten eine, auf der eine Hundertprozent-Fett-Butter der Firma "Du musst" beworben wurde. Sie blieben davor stehen.
"Du musst…" murmelte Kami, als sie die Tafel erblickte. "Ich will aber nicht." stellte sie fest, und Alain lächelte sie an.
"Dann musst du auch nicht." sagte er. Sie standen einige Minuten wortlos da, bis Alain fragte: "Wo wollen wir eigentlich hin? Man wird uns suchen, auch bei unseren Eltern."
Kami überlegte. Alain hatte Recht. Man würde sie suchen, ihn vermutlich noch mehr als sie. Ganz davon abgesehen, was sollte sie bei ihren Eltern? Immerhin hatten die sie überhaupt erst in das Kurzentrum gebracht. Schließlich sagte sie: "Warst du schon mal im Schlaraffenland?"
Alain schüttelte den Kopf. "Nein, das war ich noch nicht."
"Wollen wir uns auf den Weg machen und es suchen?" fragte Kami weiter.
Alain begann zu lächeln. "Ja, das wollen wir."
Und sie gingen los.
Anmerkung des Autors:
Ab und zu werde ich gefragt, ob ich den einen oder anderen Satz auch wirklich so gemeint habe, wie ich ihn in einer meiner Kurzgeschichten oder in meinen sonstigen Texten geschrieben habe. Ich versuche meistens, mit meinen Kurzgeschichten nicht nur zu unterhalten, sondern auch ein wenig zum Nachdenken anzuregen. Ich glaube auch, dass es in den meisten Fällen ziemlich offensichtlich ist, worum es mir geht: dass nicht alles, was die (wirkliche oder auch nur vermeintliche) Mehrheit behauptet, richtig sein muss, vor allem wenn deren Überzeugung hauptsächlich auf einem durch die Medien und Industrie beeinflussten Denkprozess beruht. Oder eben, dass Extreme grundsätzlich schlecht sind. Aus diesem Grund etwa denken die Personen in meinen Geschichten häufig darüber nach, ob das, was sie so tun, überhaupt richtig ist. Und aus demselben Grund lasse ich meine Personen nie in Gewichtskategorien vorstoßen, die zu sehr vom empfohlenen Normalgewicht abweichen, sowohl nach oben als auch nach unten. Meistens lasse ich exakte Gewichtsangaben sogar ganz weg. Ich bin fest davon überzeugt, dass das Ideale stets in der Mitte liegt, ausgeglichen sein muss. Wobei mir durchaus bewusst ist, dass es in der Realität häufig schwierig sein wird, den Mittelweg zu finden, da man hierfür zunächst die Extrempositionen, die vermieden werden sollen, finden muss.
Wie dem auch sei, mit "Verkehrte Welt" wollte ich mal einen etwas anderen Weg einschlagen. Momentan ist es ja nach wie vor so, dass das gängige Schönheitsideal Schlank sein erfordert. Je dünner, desto besser. Das ist natürlich alles von der Industrie gewollt, und viele Leute nehmen das einfach so hin. Ich will jetzt auch gar nicht darauf eingehen, wie unsinnig es ist, zwanghaft an einem Ideal fest zuhalten, das nur die wenigsten dauerhaft erreichen können. Genau sowenig möchte ich mich jetzt darüber auslassen, dass ein paar Pfunde mehr oder weniger auch nicht schaden. Was ich aber interessant finde ist, dass der Anteil an Übergewichtigen Menschen gerade in der westlichen Gesellschaft stets zunimmt. Ob das nun gut oder schlecht ist, will ich mal ausser Acht lassen, aber ich denke, dass jeder so leben sollte, wie er es für richtig hält. Die einzige Einschränkung ergibt sich, wenn dadurch andere Menschen zu Schaden kommen.
So einfach das alles in der Theorie klingt, so schwierig ist es in der Praxis. Menschen neigen leider dazu, sich völlig entgegen dieser Idee zu verhalten und nur eine einzige, meistens die eigene Überzeugung als richtig gelten zu lassen. Dem ist es gleichgestellt, wenn man von einer Idee nichts hält, ja sogar dagegen ist, aber nichts dagegen unternimmt. Auch durch Nichtstun wird eine Haltung zum Ausdruck gebracht. Das hat in der Geschichte der Menschheit schon zu zahllosen Irrsinnigkeiten geführt, die teilweise sogar in der instrumentalisierten Tötung von Menschen endeten, weil ihre Augen nicht blau und die Haare nicht blond waren.
Ausgehend davon habe ich mir nun einfach die Frage gestellt, was passieren könnte, wenn sich die Überzeugung durchsetzen würde, dass ein jeder Mensch fett sein müsse. Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass es mit einigem Aufwand möglich wäre, eine solche Überzeugung bei vielen Menschen herbeizuführen. Die Mehrheit der Leute in den westlichen Ländern ist ohnehin übergewichtig, so dass sie eine solche Entwicklung vielleicht nicht unbedingt ablehnen würden. Veröffentlichungen aus dem Bereich der Medizin können manipuliert werden (so wie alle anderen Veröffentlichungen eben auch), und es gibt sicher Zweige der Industrie, denen es nur Recht wäre, wenn alle Menschen den ganzen Tag essen würden. Alleine wenn man sich überlegt, welche Gewinne dann mit Lebensmitteln erzielt werden könnten. Darüberhinaus würden sich viele staatliche Probleme ganz von allein lösen. Wozu etwa das in Deutschland anstehende Rentenproblem lösen, wenn kaum jemand jemals eine Rente erhalten wird, weil die Allermeisten schon vor Erreichen des Renteneintrittsalters an den Folgen ihres Übergewichts gestorben sind? Wenn irgendwann ausreichend viele Menschen einer solchen Idee zugetan wären, dann könnte sich vielleicht wirklich eine solche verkehrte Welt entwickeln. Gesetze sind schnell gemacht, und in einem Obrigkeitshörigen Staat wohl auch nicht ganz wirkungslos.
Dass diese Idee natürlich absolut irrsinnig ist, sollte jedem klar sein. Dass es viele andere Bereiche gibt, in denen das Wissen um die Falschheit bestimmter Verhaltensweisen dennoch Wenige daran hindert, ihr Verhalten zu ändern, auch. Ich verweise da nur auf die Raucher.
Das klingt sarkastisch? Zugegeben, ich habe es in der Geschichte auf die Spitze getrieben, aber natürlich nicht ohne Grund. Die von mir beschriebene Gesellschaft stellt ein Extrem dar, und schon aus diesem Grund ist es eine verkehrte Welt. Die Doppeldeutigkeit des Begriffs ist dabei durchaus beabsichtigt. Interessanterweise war es gar nicht so schwer, diese Idee zu entwickeln. Ich musste nur die heutige Gesellschaft nehmen, einige Dinge umkehren und etwas übertreiben. Natürlich spielt die Geschichte in der Zukunft, in einem totalitären System, das sich so hoffentlich nie entwickeln wird. Auch wenn man derzeit in einigen Ländern durchaus Entwicklungen in diese Richtung beobachten kann.
Das wirklich interessante ist aber folgendes: zwei Extrempositionen zeichnen sich ja gerade dadurch aus, dass sie einander gegenüberstehen. Wenn ich nun dadurch, dass ich unsere Gesellschaft nur auf den Kopf stelle, eine solche Idee entwickeln kann – leben wir dann nicht selbst in einer verkehrten Welt?