Mia stand seit nicht ganz fünfzehn Minuten am Bahngleis. Marc’s Zug hatte etwas Verspätung. Wenn die Anzeigetafel nicht log, dann würde Mia sich aber nicht mehr lange gedulden müssen – in spätestens fünf Minuten würde sie Marc endlich wieder in die Arme schließen können. Drei Monate hatten sie einander nicht gesehen, nachdem Marc in den Semesterferien ein Auslandspraktikum in einer französischen Kanzlei absolviert hatte. Sie hatten fast jeden Tag miteinander telefoniert, und wenn sie einander einmal nicht erreicht hatten, so hatten sie sich zumindest gemailt. Sie hatte ihn wirklich vermisst während der drei Monate.
Mia war gespannt, wie Marc auf ihr neues Gewicht reagieren würde. Vielleicht hätte sie ihn vor warnen sollen, aber irgendwie hatte sich der richtige Zeitpunkt, zu dem sie es ihm sagen konnte, einfach nicht ergeben. Beinahe vierzehn Kilo hatte sie sich in den drei Monaten angefressen, und die liessen sich nun natürlich nicht verstecken. Ihr einst flacher Bauch war jetzt von einer ordentlichen Speckschicht überzogen, die sich in zwei kleine Röllchen legte, sobald sie sich setzte. Auch an Po und Busen hatte Mia nun deutlich ausgeprägtere Rundungen als noch vor drei Monaten. Vor allem aber ihr Gesicht war nun nicht mehr so schmal, sie hatte richtig kleine Pausbäckchen bekommen.
Zu Beginn war sie selbst überrascht gewesen, wie leicht es ihr gefallen war, zuzunehmen. Nachdem Marc fort war, hatte sie absolut keinen Sport mehr getrieben, und alle überschüssigen Kalorien hatten sich in weichen Speck verwandelt. Soweit war es keine Überraschung, dass sie so schnell so viel zugenommen hatte. Andererseits hatte sie wirklich alles getan, was sie konnte, nur damit sie ihrem Ziel näher kam. Ihr Essverhalten in den letzten Wochen nur als verrückt zu bezeichnen wäre eine Untertreibung gewesen. Nein, Mia hatte vielmehr wie eine Besessene gefuttert. Ach was, gefressen hatte sie! Es hatte Tage gegeben, da hatte sie mehr in ihren Bauch gestopft als an dem Masttag, den Sarah ihr beschert hatte. An diesen Tagen war sie abends dermaßen überfressen ins Bett gefallen, dass sie sich beinahe für ihre Fresslust schämte. Schon am nächsten Morgen war aber das schlechte Gewissen wieder vergessen gewesen, und sie hatte da weitergemacht, wo sie am Vortag aufgehört hatte.
Natürlich hatte sie ihr Vorhaben nicht lange vor Sarah geheimhalten können. Schon nach wenigen Tagen hatten sich die ersten Veränderungen an Mia’s Körper gezeigt, und Sarah war auch nicht entgangen, dass Mia weit mehr als üblich aß. Als Sarah sie darauf angesprochen hatte, da hatte Mia ihr das Vorhaben gebeichtet. Sarah hatte nur gegrinst und gefragt, ob sie ihr behilflich sein solle. Dieses Angebot hatte Mia selbstverständlich angenommen, und Sarah hatte in der Folge oft und vor allem viel für ihre Schwester gekocht. Sarah hatte auch darauf geachtet, dass immer irgendwelche Süßigkeiten griffbereit lagen, die Mia zwischen den Mahlzeiten als Snacks zu sich nehmen konnte. Zwar hätte Sarah es wohl nicht offen zugegeben, doch es war offensichtlich, dass sie Spaß daran hatte, ihre Schwester richtiggehend zu mästen.
Mia war aber nicht die einzige, die sich in den letzten Wochen verändert hatte. Seit Sarah mit Sean zusammen war, hatte auch Sarah wieder einige neue Kilos auf ihre Hüften gepackt. Jedes Wochenende war Sean zu Besuch gekommen, und dann hatten er und Sarah sich eine schöne Zeit gemacht. Wie diese für ihre Schwester aussah, wusste Mia. Selbst an den Montagen darauf war Sarah jedes Mal noch so erledigt gewesen, dass sie kaum einen Bissen hinunter brachte. Mia beneidete ihre Schwester um diese Wochenenden, zu gern hätte sie den Platz mit ihr getauscht. Sie selbst hatte es ja noch nicht einmal geschafft, Marc von ihrer Vorliebe zu erzählen, und noch wusste sie nicht, wie er auf ihre neue Körperform reagieren würde. "Sei’s drum." dachte Mia. Entweder er mochte sie so, wie sie war, oder eben nicht. Nur an den letzten Fall wollte sie keine Gedanken verschwenden, bevor es nicht tatsächlich so weit war.
Eine Durchsage kündigte die Ankunft von Marc’s Zug an und Mia hörte auch schon den Maschinenlärm der Lokomotive. Wenige Augenblicke fuhr der Zug in den Bahnhof ein und ein lautes Zischen ertönte, als der Zugführer die Bremsen betätigte. Der Zug wurde immer langsamer bis er schließlich zum Stillstand kam, dann wurden die Türen geöffnet und nach und nach stiegen die Fahrgäste aus. Mia wusste nicht, von wo genau Marc kommen würde, und so blickte sie abwechselnd nach links und rechts und hielt nach ihm Ausschau. Ein wenig aufgeregt war sie nun doch. Zum einen wusste sie ja wirklich nicht, wie er reagieren würde. Aber das war nicht der Hauptgrund für ihr aufgeregtes Herzklopfen und die schwitzigen Hände. Je näher der Augenblick des Wiedersehens kam, umso mehr wurde ihr bewusst wie sehr sie Marc wirklich vermisst hatte. Sie konnte es kaum erwarten, ihn endlich wieder zu sehen, zu umarmen und zu spüren und zu riechen. Endlich sah sie ihn – er kam aus einem der vorderen Wagons gestiegen und setzte seinen Reisekoffer ab, schulterte seinen Rucksack und blickte dann suchend umher. Mia winkte ihm zu, und als er sie erblickte winkte er zurück und setzte sich in Bewegung. Marc kam immer näher, und Mia konnte nicht anders als ihm jetzt auch entgegen zukommen. Als sie nur noch wenige Meter von einander entfernt waren, da erkannte Mia, dass Marc lächelte.
* * *
"Und es hat ihn wirklich nicht gestört?" fragte Karin zum wiederholten Male. "Du hast wirklich Glück mit Marc, weißt du das?" lachte sie.
"Ja, ich weiß. Er war nur ein wenig überrascht, aber ich glaube es hat ihn nicht gestört. Eher gefallen." Mia zwinkerte Karin verschwörerisch zu und die beiden kicherten.
"Naja, trotzdem: ein wenig könntest du ruhig wieder abnehmen." meinte Karin. "Nicht nur, weil das shoppen immer schwieriger wird…"
Mia rollte mit den Augen und zuckte dann mit den Schultern. "Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ich fühl’ mich im Moment pudelwohl."
"Im Moment, was heisst das schon. Denk’ doch auch mal an deine Gesundheit. Wenn du so weiter machst…" setzte Karin an, brach dann aber wieder ab. Zum einen, weil sie Mia’s Entwicklung in den letzten Wochen miterlebt hatte und sie bereits mehrfach erfolglos auf eine Diät angesprochen hatte, zum anderen weil Sarah ihr ins Wort fiel.
"Seid ihr zwei dann irgendwann auch mal fertig? Ständig geht’s nur um ihren Freund und ihr Gewicht." meckerte Sarah. "Denkt vielleicht mal jemand an mich? Ich hab’ nämlich langsam Hunger!"
Karin warf ihr einen gemischten Blick zu. "Weißt du, dir täte eine Diät vielleicht auch mal ganz gut…"
"Ja ja, ich weiß. Aber jetzt hab ich Hunger. Also, was ist?" überging Sarah Karin’s Bemerkung.
Mia blickte auf die Uhr. Es war viertel nach fünf, und langsam konnten sie sich wirklich auf den Heimweg machen. Ausserdem hatte sie selbst auch Hunger, hatte sie doch seit Mittag nichts mehr gegessen. Mia hängte die Bluse zurück und meinte dann: "Sarah hat glaube ich Recht. Für heute haben wir wahrscheinlich genug Geld ausgegeben." Dabei deutete sie beiläufig auf die Tüten, von denen Karin, Mia und Sarah jeweils zwei Stück trugen. "Ausserdem bin ich auch hungrig. Wir könnten ja das neue Restaurant an der Ecke zur Schieferstraße probieren. Dort soll es sehr gut sein."
"Und große Portionen geben." fügte Sarah hinzu.
Karin blickte sie an, begann zu grinsen und schüttelte dann ungläubig den Kopf. "Wisst ihr, manchmal hab’ ich das Gefühl, ihr wollt gar nicht abnehmen, so wie ihr dauernd ans Essen denkt. Naja, sagt aber später nicht, ich hätte euch nicht gewarnt."
"Bestimmt nicht." meinte Sarah. "Können wir dann?"
Mia blickte Karin an. "Was meinst du? Wollen wir da hin und es probieren?"
Karin überlegte kurz. "Gut, dann lasst uns gehen."
* * *
Karin parkte den blauen Polo auf dem Gästeparkplatz und die drei Freundinnen stiegen aus. Der Weg vom Einkaufszentrum hier her war nicht allzu weit gewesen, und trotz des Stadtverkehrs hatten sie weniger als fünfzehn Minuten gebraucht. Der Parkplatz selbst war nur wenige Meter vom Eingang des Restaurants entfernt, so dass die drei jungen Frauen nicht einmal eine halbe Minute vom Wagen bis zur Eingangstür brauchten. Das "Americana" hatte erst vor wenigen Wochen eröffnet und bot – wie der Name unschwer zu erkennen gab – vor allem amerikanisches Essen an. Das meiste das man hier bestellen konnte war eindeutig Fast Food, doch es gab auch Gerichte für etwas anspruchsvollere Gäste. Gleich wie man sich aber entschied, in jedem Fall waren die Portionen üppig und kalorienreich. Zumindest hatten Mia, Sarah und auch Karin das schon von Mitstudenten gehört, die hier bereits gegessen hatten. Dass diese Erfahrungsberichte ganz offenbar der Wahrheit entsprachen wurde offensichtlich, als sie einen Blick auf die Speisekarte warfen, die aussen am Eingang platziert worden war, so dass hungrige Passanten leichter herein gelockt werden konnten. Sarah bemerkte die fett gedruckte Notiz am unteren Ende der Karte als Erste.
"Hey, seht mal – die haben hier sogar einen All-You-Can-Eat-Bereich!" Sie nickte Mia und Karin zu und biss sich unschuldig auf die Unterlippe.
"Hmm ich weiß nicht…" meinte Karin und zog skeptisch die Augenbrauen nach oben. "Ich bin eigentlich kaum hungrig."
"Dafür ist es ziemlich günstig…" überlegte Mia laut. "Sogar die Getränke sind mit dabei."
"Ich dachte, wir essen nur eine Kleinigkeit?" fragte Karin und blickte abwechselnd die beiden Schwestern an. Mia las immer noch die Karte, und Sarah blickte ungeduldig auf die Uhr. "Ich hab’ Huuunger…" meinte sie schließlich in einem genervten Ton.
"Was meinst du? Wollen wir’s wagen?" fragte Mia Karin und warf ihr einen unschlüssigen Blick zu. "Es ist wirklich günstig…"
Karin überlegte kurz, zuckte schließlich mit den Schultern und seufzte dann. "Na gut, wenn ihr meint… war ja wahrscheinlich eh klar, dass man bei euch beiden mit so etwas rechnen muss…"
"Nun lass’ doch mal gut sein Karin und tu’ dir heute was Gutes." gab Mia zur Antwort.
Sarah hingegen ignorierte die Bemerkung einfach, öffnete die Tür und ging hinein. Mia folgte ihrer Schwester bevor Karin etwas sagen konnte, und so tat Karin es den beiden Schwestern gleich und ging ins Americana hinein. Innen war das Americana eingerichtet wie ein amerikanisches Diner aus den späten 60ern. Das Personal trug Arbeitskleidung, die der damaligen Mode ziemlich exakt nachgemacht worden war, und nur die Musik, die leise aus einigen Lautsprechern in den Ecken des Restaurants tönte, erinnerte den Besucher daran, dass diese Zeit seit mehr als 30 Jahren vorbei war. Mia, Karin und Sarah kauften rasch drei Tickets für den All-You-Can-Eat-Bereich und wurden dann in den hinteren Gastraum, der ebenso eingerichtet war wie der vordere, gebracht. Während sich im vorderen Bereich des Restaurants zahlreiche Personen aufgehalten hatten, waren hier nur wenige Gäste und einige Angestellte des Americana anwesend. Während die Gäste entweder an ihren Tischen saßen und es sich schmecken ließen, räumten die beiden Angestellten schmutziges Geschirr wieder aufgebrochener Gäste fort und kontrollierten regelmäßig, ob das aufgebaute Buffet noch allen Ansprüchen gerecht wurde. Das Buffet selbst verdiente den Namen eigentlich nicht ganz – es handelte sich vielmehr um eine Art Essensausgabe, die sich unweit der Küche zu befinden schien. Die einzelnen Speisen wurden hier auf mehreren U-förmig aufgestellten Tischen angeboten, und wer sich für ein bestimmtes Gericht entschieden hatte, konnte sich eine Portion davon von den dafür zuständigen Servierern geben lassen.
Mia, Sarah und Karin nahmen sich je ein Tablett und begutachteten das Angebot. Die Auswahl war wirklich groß. Das meiste bestand aus irgendwelchen frittierten und damit ziemlich fetthaltigen Speisen, aber es gab auch einige Gemüsebeilagen. Sarah machte um diese wie üblich einen großen Bogen und ließ sich stattdessen ein paar Stückchen frittiertes Hühnerfleisch geben. Ausserdem ließ sie sich reichlich Pommes Frites als Beilage auf den Teller laden. Mia tat es ihr gleich, wählte aber anstelle der Pommes eine großzügige Portion Kartoffelbrei. Karin beäugte etwas skeptisch die Teller ihrer beiden Freundinnen, die Portionen waren wirklich ziemlich üppig. Sie selbst entschied sich schließlich für die gleiche Zusammenstellung, die auch Mia gewählt hatte. Wie selbstverständlich gab der Servierer Karin eine nicht weniger große Portion, und sie wollte zuerst protestieren, ließ es dann aber sein. So wie sie Mia und Sarah kannte, würden die beiden ihr zur Not schon dabei helfen den Teller zu leeren.
Anschließend setzten die drei sich an einen der Tische auf der linken Raumseite. Die Tische waren durch kleine Trennwände zum jeweils nächsten so angeordnet worden, dass jeder Tisch und die zugehörigen Sitzgelegenheiten sich in einer einladenden Nische befanden. Die Gäste konnten somit kaum von anderen Restaurantbesuchern gestört werden und in Ruhe essen.
Sarah hatte kaum ihr Tablett abgestellt, als sie auch schon begann sich über ihre Portion her zumachen. Sarah mochte fettige Speisen sehr gern, und das sah man ihr auch an. Mia nahm es schmunzelnd zur Kenntnis und begann selbst zu essen, deutlich langsamer als ihre Schwester. Karin tat es ihr gleich. Während die drei Freundinnen langsam ihre Teller leerten, unterhielten sie sich zum wiederholten Male über das Wiedersehen von Mia und Marc. Mia hatte Marc vom Bahnhof abgeholt. Nach drei Monaten "Beziehungspause" – wenn man es so nennen wollte – hatte er sich ebenso auf Mia gefreut wie sie auf sich ihn. Trotzdem war Mia ein wenig nervös gewesen, da sie sich in der Zwischenzeit ein wenig verändert hatte und sie nicht wusste, wie Marc darauf reagieren würde. Erst hatte sie geglaubt, er könnte mit ihrem neuen Körperumfang vielleicht ein Problem haben. Immerhin war Marc sehr sportlich, und es wäre ja möglich gewesen, dass er das Selbe von seiner Freundin erwartete. Als sie sich dann aber endlich wieder in die Arme schließen konnten, schien es ihn nicht nur nicht zu stören. Er machte Mia im Gegenteil sogar noch zwei fast schon zu schmeichelhafte Komplimente, wie gut sie aussehen würde und dass ihr die paar Pfunde mehr als nur gut stehen würden. "Die paar Pfunde…" schmunzelte Mia, während sie es erwähnte.
Karin hörte interessiert zu, es wirkte immer noch ein wenig befremdlich auf sie, dass Mia neuerdings so offen über ihr Gewicht bzw. ihre Zunahme sprach. Es schien ihr wirklich überhaupt nichts auszumachen. Karin selbst hätte damit bestimmt ein Problem gehabt. Sie versuchte stets, sich gesund zu ernähren und ihr Gewicht zu halten. Auch, weil sie Angst hatte, mit etwas mehr Speck auf den Hüften nicht mehr als attraktiv angesehen zu werden. Bei Mia war es anders. Sie schien Gefallen an ihrem Körper zu finden, und das zeigte sie auch. Karin hatte in den letzten Wochen schon mehrfach nachgedacht, was wohl der Grund dafür sein konnte. Vor ziemlich genau drei Monaten hatte Mia angefangen, sich zu verändern. Erst war es Karin nicht so sehr aufgefallen, da sie sich in den ersten beiden Wochen der Semesterferien nur einmal gesehen hatten. Als sie in der dritten Woche Mia überraschend besuchte, hatte diese gerade gekocht – eine ziemlich große Portion, wie Karin fest stellen sollte. Natürlich hatte Mia Karin eingeladen, zum Essen zu bleiben, und Karin hatte schnell bemerkt, dass Mia deutlich mehr als nur ein bisschen zuviel gekocht hatte. Die beiden hatten sich angeregt unterhalten und nebenbei alles aufgegessen, was Mia zubereitet hatte. Karin selbst hatte sich danach pappsatt gefühlt, aber schon damals war sie den Verdacht nicht losgeworden, dass Mia nicht unabsichtlich so viel gekocht hatte. Karin hatte sich damals nur nicht so richtig Gedanken darüber gemacht. Dann, wieder eine Woche später, trafen die beiden sich zufällig in der Apotheke. Karin war sofort aufgefallen, dass Mia’s Gesicht ein klein wenig runder wirkte. Ausserdem kam sie nicht umhin, die kleine Speckrolle zu bemerken, die sich zwischen Mia’s Jeansbund und ihrem Top hindurch schob. Dass Mia gerne bauchfrei trug war trotz des kühlen Frühlings nichts neues. Wohl aber, dass sie nicht mehr so durchtrainiert wie üblich war. Karin machte eine scherzhafte Bemerkung darüber – als beste Freundin durfte sie das – und staunte nicht schlecht, als Mia nur abwinkte und dann sogar meinte, sie solle nur abwarten. Zu gern hätte Karin schon zu diesem Zeitpunkt verstanden, was Mia gemeint hatte. Sie musste sich jedoch nicht lange gedulden, schon eine Woche darauf erfuhr sie es. Dieses Mal besuchte Mia Karin, und es war offensichtlich, dass Mia noch ein wenig mehr zugenommen hatte. Es war erstaunlich, wie stark selbst eine geringe Gewichtszunahme bei jemand Schlankem auffiel. Und noch erstaunlicher war, dass Mia wie sie selbst sagte, absichtlich zunahm. Erst hatte Karin ihr nicht geglaubt, aber spätestens als Mia sich ein viertes Kuchenstück zum Kaffee von Karin geben ließ, begann sie zu begreifen, dass Mia keineswegs scherzte. Natürlich hatte Karin zunächst versucht, Mia ins Gewissen zu reden. Nicht ein viertes Kuchenstück, besser eine Diät sollte es sein. Aber Mia schien sich überhaupt nicht für diesen Vorschlag zu interessieren. Schließlich hatte Karin aufgegeben und stattdessen Mia geradezu mit Fragen gelöchert. Mia hatte ihr dann eine Menge unglaublicher, ja geradezu verrückter Dinge erzählt. Wäre sie nicht ihre beste Freundin gewesen, dann hätte sie ihr auch nie im Leben geglaubt. So aber hatte sie einsehen müssen, dass es Mia ernst war und dass sie sich nicht nur verändern wollte, sondern bereits dabei war, es zu tun. Wann immer die beiden sich in den nächsten Wochen sahen, so hatte Mia sich ein wenig mehr verändert. Karin wusste bis heute nicht, was sie davon halten sollte. Sicher, es mochte Mia gefallen. Aber wie weit würde sie gehen? Karin machte sich Sorgen, ob Mia nicht doch zu leichtfertig mit ihrer Gesundheit umsprang. Aber, und das zu erkennen hatte Karin viel Zeit gekostet, sie beneidete Mia auch. Nicht so sehr, weil ihre Freundin langsam mollig wurde. Das war etwas, das Karin sich selbst nie wünschen würde. Dafür aber beneidete sie Mia um ihre Einstellung. Mia hatte es irgendwie geschafft, sich von einer Reihe gesellschaftlicher Zwänge zu befreien. Nicht nur das, sie tat genau das was sie wollte und hatte Spaß daran, und sie akzeptierte sich so wie sie war. Und das war vermutlich auch der Grund, warum Mia so offen und unbeschwert mit diesem Thema umgehen konnte. Sogar offener als ihre Schwester, von der Karin mittlerweile auch so einiges wusste. Aber auf jeden Fall offener als sie selbst. Vielleicht würde sie es irgendwann verstehen, aber noch war sie froh, wenn Mia das Thema wechselte und schließlich von den anderen Dingen erzählte, die Marc zu berichten gehabt hatte. Und in den drei Monaten hatte Marc so einiges erlebt. Nicht nur, was das Praktikum anging. Natürlich hatte er wie jeder andere es auch getan hätte neue Freundschaften geknüpft, mit ihnen das Pariser Nachtleben erkundet und ganz nebenbei auch noch die Zeit gefunden, sich nebenbei mit der französischen und insbesondere der Kultur der Hauptstadt des Landes zu befassen. Davon erzählte Mia ebenfalls.
Obwohl Sarah es mittlerweile schon zum dritten oder vierten Mal hörte – Mia hatte es ihr bereits gestern Abend zweimal freudig erzählt – schaltete auch sie sich mit ins Gespräch ein, nicht aber ohne weiterhin ihren Hunger zu stillen. Wirklich interessiert war Sarah allerdings nicht – auch ihr gingen einige Gedanken im Kopf umher, und es gab eine Sache, über die sie mit ihrer Schwester auf jeden Fall noch sprechen musste. Und zwar besser früher als später. Sarah hatte dieses Gespräch schon einige Zeit vor sich hergeschoben, aber erst vor zwei Tagen hatte Sean ihr eindringlich zu verstehen gegeben, dass sie ihrer Schwester Bescheid sagen musste. Sarah hatte nur keine große Lust dazu, da sie ziemlich genau wusste, wie Mia reagieren würde. Aber es war wichtig, mit Mia darüber zu sprechen und sie womöglich davon zu überzeugen, dass Sarah genau das tun musste, was sie plante. Immerhin würde Sarah auch mit ihren Eltern noch über die Sache reden müssen, und es wäre sicherlich gut, wenn ihre große Schwester sie ein wenig unterstützen würde. Wenn nichts dazwischen kam, dann würde sie morgen beim Frühstück mit Mia darüber sprechen.
Mia und Sarah waren in etwa gleichzeitig mit ihrer Portion fertig, nachdem Sarah nach ihrem anfänglichen Schlingen ihre Essgeschwindigkeit doch noch der ihrer Begleiterinnen angepasst hatte. Aber auch Karin hinkte nicht weit hinterher, nur noch ein kleiner Rest Kartoffelbrei und ein Stückchen Fleisch lagen auf ihrem Teller.
"Das war richtig lecker." meinte Mia anerkennend. Karin nickte zustimmend.
"Stimmt." schloss sich Sarah den beiden an. "Man möchte fast noch eine Portion."
"Nochmal so einen Teller voll?" fragte Karin ungläubig. "Also mir reicht mein’s…"
"Ich könnte schon noch was vertragen. So viel war’s ja nun auch wieder nicht." grinste Sarah.
"Dann geh’ dir doch noch einen Nachschlag holen, kostet ja nichts. Ich hab’ nämlich vielleicht auch noch ein bisschen Hunger." überlegte Mia laut.
Karin warf ihrer Freundin einen tadelnden Blick zu. "Das meinst du nicht ernst, oder?"
"Warum denn nicht?" fragte Mia zurück. "Erstens hab’ ich wirklich noch Hunger und zweitens hat’s ja auch nicht schlecht geschmeckt, oder?"
"Das nicht, aber… ich meine, wir haben doch vorhin erst darüber gesprochen. Und ich meine, ein bisschen mehr solltest du schon auf dein Gewicht achten…" sagte Karin ehrlich besorgt.
Mia verdrehte die Augen. "Geht das jetzt schon wieder los? Lass’ es doch einfach mal gut sein, Karin. Es gibt wichtigeres als die Zahl, die meine Waage anzeigt."
"Tut mir Leid, Mia. Ich meine es ja nur gut mit dir…" versuchte Karin sie zu beschwichtigen.
"Wieso gönnst du dir nicht auch noch eine zweite Portion?" fragte Sarah plötzlich.
"Ich?" Karin blickte sie völlig verdutzt an.
"Natürlich du. Mia brauch’ ich ja nicht zu fragen, und ausser dir ist ja sonst keiner mehr da." meinte Sarah trocken. Karin blickte sie ausdruckslos an, scheinbar konnte sie mit Sarah’s Vorschlag gar nichts anfangen. Sarah kicherte, dann sprach sie weiter. "Ich meine, wenn du auch noch was isst, dann sieht’s nicht so aus, als würden wir beide so viel futtern."
Jetzt verstand Karin überhaupt nichts mehr, und auch Mia runzelte angesichts der doch etwas haarsträubenden Logik ihrer Schwester die Stirn. "Müssen wir das verstehen, Sarah?"
Sarah drehte ihren Kopf und grinste jetzt Mia an. "Was gibt’s denn da groß zu verstehen? Wenn wir schon mal hier sind, dann können wir das auch nutzen. Verdammt nochmal, das ist ein All-You-Can-Eat-Restaurant!" Beim letzten Satz hatte Sarah gelacht und mit der Faust vorsichtig auf den Tisch geschlagen, so als würde das ihrer Argumentation mehr Nachdruck verleihen.
Mia und Karin blickten Sarah fast eine halbe Minute lang an, ohne etwas zu sagen. Keine der beiden verstand, was genau Sarah vorhatte, zumal sie ja eigentlich wissen musste, dass Karin kaum von einer Minute zur anderen ihre Überzeugungen über Bord werfen würde.
"Aber soviel essen zu können wie man möchte bedeutet ja nicht, dass man das auch tun muss." meinte Karin schließlich.
"Ach was." winkte Sarah gelangweilt ab. Dann beugte sie sich nach vorn und blickte Karin direkt in die Augen. "Gib’s zu, du kannst gar nicht so viel essen."
Mia wusste, dass der Satz gesessen hatte. Sie kannte Karin jetzt schon seit einigen Jahren, und wenn sie in dieser Zeit eines über Karin herausgefunden hatte, dann dass Karin sich niemals sagen ließ, was sie konnte oder eben nicht konnte.Wann immer jemand Karin vorgeworfen hatte, dass sie etwas nicht konnte, dann hatte er oder sie sich entweder auf einen lautstarken Streit gefasst machen müssen. Oder aber Karin zeigte dem Provokateur, dass sie es eben doch konnte. Mia war sich nicht sicher, ob Sarah das wusste, aber wenn sie es wusste, dann ergaben Sarah’s Bemerkungen mit einem Mal Sinn. Interessiert beobachtete Mia, wie sich die Situation entwickeln würde.
"Wie meinst du das?" fragte Karin etwas irritiert.
"So wie ich es gesagt habe." Sarah grinste hämisch. "Selbst wenn es dir noch so gut geschmeckt hätte, du würdest nichts mehr schaffen."
Karin legte ihr Besteck beiseite und verschränkte die Arme auf dem Tisch. "Und woher willst du das wissen?"
Sarah zuckte mit den Schultern. "Ist ja wohl nicht schwer zu erkennen. Du schaffst ja nicht mal die eine kleine Portion." Während sie das sagte, deutete sie mit dem Zeigefinger auf Karin’s Teller, auf dem immer noch das letzte bisschen Kartoffelbrei und das Stückchen Hühnerfleisch lagen.
"Also erstmal bin ich ja noch nicht fertig, und zweitens muss ich ja nicht soviel essen wie reingeht, sondern nur soviel bis ich satt bin." rechtfertigte sich Karin.
"Gibt’s da einen Unterschied?" konterte Sarah, und nachdem Karin ihr offensichtlich nicht folgen konnte, sprach sie weiter. "Richtig satt ist man doch erst, wenn der Bauch voll ist."
"Das glaube ich dir sofort." meinte Karin kopfschüttelnd und griff wieder zu ihrem Besteck, um weiter zuessen. Anscheinend war die Diskussion für sie beendet.
Nicht aber für Sarah, die nicht locker ließ. "Das sagst du nur, weil du keine Ahnung hast. Und die kannst du ja auch nicht haben, weil du nicht mehr schaffst."
"Du gehst mir langsam auf die Nerven, Sarah." antwortete Karin, die allmählich etwas gereizt wirkte. "Wenn du meinst, dass du mehr schaffst als ich, dann bitte…"
"Soll das eine Herausforderung sein?" fragte Sarah mit einem beinahe triumphierenden Unterton in der Stimme.
"Eine Herausforderung?" stutzte Karin. Sie schwieg einige Sekunden und überlegte, dann schien sie zu erkennen, was hier ablief. Eigentlich hätte sie viel früher drauf kommen müssen, wusste sie doch, dass auch Sarah zumindest nach den Erzählungen ihrer Schwester nicht gerade wenig Appetit hatte. "Das meinst du nicht ernst, oder?"
"Was?" fragte Sarah unschuldig.
"Ich soll jetzt mit dir hier um die Wette futtern. Aber das kannst du gleich vergessen."
"Hast du Angst, dass du verlierst?" fragte Sarah keck.
"Nein. Ich weiß, dass ich verlieren würde. Obwohl ich mehr essen kann als das da." Dabei deutete Karin auf ihren jetzt leeren Teller. "Aber ich bin vernünftig genug rechtzeitig aufzuhören."
Sarah lehnte sich zurück und seufzte, offenbar konnte sie Karin nicht überreden.
"Dann machen wir eben zwei gegen einen." schaltete sich jetzt Mia wieder ins Gespräch mit ein.
"Zwei gegen einen? Du meinst, ihr beide gegen mich?" fragte Sarah etwas überrascht von dem Vorschlag ihrer Schwester. Mia nickte. Sarah überlegte kurz, dann tat sie es ihr gleich. "Ok, abgemacht."
"He, Moment mal – hört ihr mir überhaupt zu? Ich werde jetzt nichts mehr essen, und ganz bestimmt werde ich hier nicht um die Wette futtern." sagte Karin, die sich etwas darüber ärgerte, wie die beiden Schwestern sie hier einfach übergingen.
"Ich sag’ ja, du kannst halt nicht mehr essen." wiederholte Sarah sich.
"Jetzt hab’ ich aber genug!" fauchte Karin. "Ich kann sehr wohl, wenn ich will! Soll ich dir das unbedingt beweisen? Dann pass’ auf, ich nehm’ deine Herausforderung an!"
Sarah begann zu grinsen als hätte sie soeben ihren Lottoschein überprüft und fest gestellt, dass sie die sechs Kreuzchen richtig gesetzt hatte, und auch Mia konnte sich ein kurzes Lächeln nicht verkneifen. Sarah hatte es wirklich geschickt angestellt, Karin zu diesem Unfug – denn nichts anderes war es ja im Grunde – zu überreden. Auch wenn Mia und Karin ein Team bilden würden, vielleicht würde Sarah doch noch ihre späte Rache für das chinesische Essen bekommen.
Die Regeln für das Wettfuttern waren schnell gemacht. Mia und Karin traten im Team gegen Sarah an. Ein Zeitlimit setzten sich die drei Freundinnen nicht, Sieger sollte sein, wer mehr essen konnte. Natürlich hätte Sarah keine Chance auf den Sieg, wenn Mia so viel essen würde wie sie es mittlerweile konnte. Wahrscheinlich hätte Sarah diese Chance nicht einmal, wenn sie gegen Mia allein antreten müsste. Aber Mia sollte Karin ja auch nur unterstützen. Deshalb wurde vereinbart, dass Mia immer nur dann eingreifen sollte, wenn Karin eine vergleichbare Menge zu der von Sarah geschafft hatte. Wenn Sarah beispielsweise fünf Stückchen Fleisch geschafft hatte, so hätte Karin eigentlich dieselbe Menge vertilgen müssen. Da Karin aber im Gegensatz zu Sarah derartige Essensmengen nicht gewohnt war, waren sich die drei Freundinnen einig, dass Karin nur vier Stückchen Fleisch zu essen brauchte. Das fünfte Stück würde Mia für sie essen. Für die Beilagen – Pommes und Kartoffelbrei – trafen Sarah, Mia und Karin eine ähnliche Vereinbarung. Auf diese Weise hatte jede Seite eine realistische Chance zu gewinnen, und gleichzeitig konnte Karin auch zeigen, dass sie tatsächlich mehr essen konnte als Sarah behauptet hatte.
Nachdem das geregelt war, holten sich alle drei am Buffet Nachschlag. Die Portionen von Karin und Sarah fielen verständlicherweise ungleich größer aus als die von Mia, und Karin’s Gesichtsausdruck ließ vermuten, dass sie ihre vorschnelle Zusage zu diesem Wettessen bereits jetzt bereute. Mia und Sarah hingegen sahen dem Ganzen eher gelassen entgegen – nicht nur, weil sie es ja gewohnt waren, auch einmal größere Mengen zu verdrücken, sondern auch, weil beiden die erste Portion zwar sehr gut geschmeckt, aber nicht gereicht hatte. Auch das war eine Folge des ständigen Überfressens in den letzten Wochen und Monaten gewesen. Soviel Spaß es auch jedes Mal machte, beide hatten fest gestellt, dass sie mit der Zeit immer mehr essen konnten und es sehr oft auch einfach deswegen taten, weil sie sonst nicht satt geworden wären. Gerade Mia hatte das früher nie geglaubt, doch sie war an einem Punkt angelangt, an dem sie langsam merkte, dass die antrainierte Verfressenheit nicht nur Vorteile mit sich brachte. Kurven, wie sie es sich gewünscht hatte, hatte sie bereits, und ganz falsch lag Karin nicht, wenn sie sich Sorgen um die Gesundheit ihrer Freundin machte. Mia merkte selbst, dass sie auch in den Zeiten in denen sie es nicht darauf anlegte, mehr als üblich zu essen, aufpassen musste. Sie mochte ihren neuen Körper und sie hatte auch kein Problem mit den Pfunden, die sie sich angefuttert hatte. Genauso gut wusste sie aber, dass sie richtig dick werden könnte, wenn sie sich nicht unter Kontrolle hatte. Und das wiederum wollte sie genauso vermeiden wie wieder das fast schon zu schlanke Mädchen zu werden, das sie bis vor wenigen Monaten noch gewesen war. Sarah andererseits schien ihr Gewicht mehr oder weniger egal zu sein. Seit sie mit Sean zusammen war, hatte sie wieder sichtbar zugenommen, aber Sarah machte sich kaum Gedanken darüber. Sie genoss es einfach, so viel zu essen wie sie wollte. Ob sie dabei zunahm oder nicht war ihr fast völlig egal. Sarah beschwerte sich nie über ihr aktuelles Gewicht, was aber auch daran liegen konnte, dass Sarah eigentlich kein Ziel in diesem Sinne hatte. Sie aß nicht, um zuzunehmen, und wenn sie mal weniger aß, dann tat sie das nicht um wieder abzunehmen – sie hatte dann schlicht keinen Hunger. So betrachtet unterschieden Mia und Sarah sich vielleicht in diesem einen Punkt: für Sarah war es schön, so viel zu essen, wie sie wollte oder konnte. Aber es war nur eine Nebensache, eine Sache, die für Sarah einfach mit dazu gehörte und daher keiner besonderen Erwähnung bedurfte. Mia andererseits aß ebenfalls gerne und auch gerne viel. Für sie aber nahm dieser Bereich einen weit größeren Raum in ihrem Leben ein. Mia machte sich Gedanken darüber, warum sie soviel aß – wollte sie runder werden? oder es sich einfach nur schmecken lassen? – und auch, wie sie mit den Folgen leben musste und andere darauf reagierten. Das hatte bisher gut funktioniert, nicht zuletzt deswegen, weil Mia sich angewöhnt hatte, so offen wie möglich mit dieser Sache umzugehen. Manche Leute konnten damit umgehen, andere weniger. Zu welcher der beiden dieser Gruppen Mia selbst gehörte, darüber war sie sich noch nicht ganz sicher.
Wieder an ihrem Tisch angekommen setzten sich Mia, Sarah und Karin und begannen zu essen. Während Sarah und Karin mehr oder weniger schnell versuchten, ihre Portion zu verdrücken, musste Mia sich aufgrund der getroffenen Vereinbarung zunächst zurückhalten. Erst wenn Karin die abgemachte Menge gegessen hatte, so durfte Mia zugreifen. Einerseits fiel das Mia schwerer als erwartet, da sie gerne gleich weiter gegessen hätte, hatte sie doch selbst auch noch Hunger. Andererseits konnte sie so ihre Schwester und ihre Freundin besser beobachten.
Sarah hatte erwartungsgemäß überhaupt keine Probleme, und so schaufelte sie unermüdlich die zweite Portion in sich hinein. Im Gegensatz zu sonst aß Sarah aber ein wenig schneller als üblich, so dass Karin sich ebenfalls beeilen musste, wenn sie nicht zu sehr ins Hintertreffen geraten wollte. Überhaupt empfand Mia es als ziemlich interessant, vor allem Karin beim Essen zuzusehen. Sie hatte schon oft gesehen, wie Sarah geradezu unglaubliche Mengen verdrückt hatte, und dieses neuerliche Gelage stellte abgesehen von der Tatsache, dass ihre Schwester es öffentlich abhielt, insofern nichts Besonderes da. Bei Karin hingegen war es anders. Mia war sich ziemlich sicher, dass Karin so gut wie nie auch nur einen Bissen mehr aß als sie sich gerade so erlaubte, nur damit sie nicht zunahm. Damit stand aber auch fest, dass dieses übermäßige Essen etwas völlig Neues für Karin war. In gewisser Weise erinnerte Karin Mia an sich selbst, als sie vor vielen Monaten selbst zum ersten Mal bewusst ein solches Gelage abgehalten hatte. Auch damals war der Impuls dazu von ihrer Schwester ausgegangen, und der einzige Unterschied bestand vielleicht darin, dass es Sarah bei ihrer Schwester weniger schwer gefallen war, sie dazu zu überreden. Erst durch Sarah war Mia zu dieser ungewöhnlichen Vorliebe gelangt, die mittlerweile einen so wichtigen Teil in ihrem Leben einnahm. Zwar glaubte Mia nicht, dass es bei Karin gleich oder auch nur ähnlich verlaufen könnte, aber es war doch interessant, jemandem wie Karin dabei zuzusehen.
Zur großen Überraschung von Mia und wohl auch der ihrer Schwester konnte Karin tatsächlich recht gut mithalten, so dass sie nicht nur in etwa gleichauf mit Sarah lag, sondern Mia auch in regelmäßigen Abständen ein kleines Stückchen von ihrer Portion aufessen durfte. Vielleicht würde Sarah doch nicht so überlegen gewinnen, wie sie es vorher vermutet haben dürfte. Aber Mia wusste aus eigener Erfahrung, dass es gerade zu Beginn eher einfach war, schnell zu essen. Je länger es dauerte, desto schwerer wurde das Kauen und das Schlucken, und irgendwann musste man sich zu jedem weiteren Bissen überwinden. Bei Sarah würde es noch eine ganze Weile dauern, bis es soweit war, aber Karin würde sicher bald eine nach der anderen dieser Grenzen erreichen und womöglich übertreten. Wenn Mia ehrlich war, so stand Karin bereits jetzt die Anstrengung sichtlich ins Gesicht geschrieben. Hin und wieder atmete sie ziemlich schwer, aber sie raffte sich dennoch jedes Mal auf, weiter zuessen. So gesehen verdiente Karin sogar einiges an Anerkennung, denn vorher hätte Mia ihr das tatsächlich nicht zugetraut.
Je länger Sarah und Karin aßen, desto kleiner wurden die Essensberge auf ihren Tellern. Die zweite Portion war bei beiden deutlich üppiger als die erste ausgefallen, aber bereits jetzt stand fest, dass beide auch diese schaffen würden. Ein wenig amüsiert bemerkte Mia die kleine Beule, die sich unter Karin’s Bluse in Höhe der Magengegend zu formen begann. Dank der eng anliegenden Kleidung, die Karin auch sonst bevorzugte, war ziemlich gut zu sehen, wo das ganze Essen hin gewandert war. Bei Sarah hingegen zeigte sich noch nichts dergleichen, aber Mia wusste, dass das vor allem daran lag, dass Sarah auch so ein kleines Bäuchlein vor sich her schob. Es brauchte also schon einiges mehr dazu, dass die Folgen eines solchen Gelages bei Sarah sichtbar wurden. Wie bei ihr selbst im Übrigen auch.
"Und, gibst du auf?" fragte Sarah, nachdem sie und Karin in etwa gleichzeitig ihre Teller geleert hatten.
"Das hättest du wohl gerne, nicht wahr?" antwortete Karin. "Jetzt wo wir damit angefangen haben, da ziehen wir das auch durch."
Sarah nickte, die Kampfeslust von Karin imponierte ihr. "Also gut. Dann auf zur nächsten Portion."
Sarah stand auf und ging zur Essensausgabe hinüber. Karin seufzte, und erhob sich dann ebenfalls – allerdings deutlich schwerfälliger, als Sarah es getan hatte. Kaum dass sie stand legte sie eine Hand auf ihren leicht geschwollenen Magen und rieb vorsichtig darüber.
"Weißt du, vielleicht solltest du wirklich aufgeben." schlug Mia vor, die sich ein wenig Sorgen um Karin machte. So gern sie herausfinden wollte, wie weit Karin gehen würde um Sarah nicht ihre Niederlage eingestehen zu müssen, genauso wenig wollte Mia, dass Karin es hier übertrieb.
"Nein, den Spaß gönn’ ich deiner Schwester nicht." meinte Karin trotzig und ging dann hinüber zum Büffet, wo sie sich ebenfalls ein weiteres mal Nachschlag holte.
Sarah und Karin kamen gleichzeitig zurück, nachdem Sarah darauf geachtet hatte, dass Karin’s Portion auch ja nicht kleiner ausfiel als die ihre. Beide setzten sich, und erneut begannen sie zu essen. Dieses Mal allerdings aßen beide langsamer, und jetzt beobachtete auch Sarah ihre Kontrahentin bei dem Versuch, es mit ihr aufzunehmen. Es war offensichtlich, dass Karin spätestens mit dieser Portion an ihre Grenzen gelangen würde, denn sie musste sich schon nach wenigen Bissen sichtlich zwingen, weiter zuessen. Es war überhaupt ein Wunder, dass sie bereits dabei war, den dritten Teller leer zu essen. Wenn man bedachte, wie schlank Karin im Vergleich zu den beiden Schwestern war und wie wenig sie sonst aß, dann mussten ihr die Mengen im Verhältnis nochmal um ein gutes Stück größer erschienen sein. Sarah hingegen zeigte nach wie vor keinerlei Anstrengung, und jedes Mal, wenn sie die Gabel zu ihrem Mund führte, lächelte sie Karin provokant an. Mia wusste, dass Sarah die Situation genoss – wenn sie wollte, dann konnte sie wirklich gemein sein, Mia hatte das selbst erlebt.
Nach einer Weile schien es so weit zu sein, dass Karin aufgeben würde müssen. Seit einigen Minuten konnte sie nicht mehr mit dem Tempo von Sarah mithalten, und vor jedem Bissen atmete sie mehrmals schwer, bevor sie ihn schließlich angestrengt in ihren mittlerweile gut gefüllten Magen beförderte. Die kleine Beule unter ihrer Bluse war unterdessen zu einer kleinen, prallen Kugel angeschwollen, und Karin hatte eine Hand ständig darauf gelegt und massierte die Wölbung mit ihren Fingern.
Auch Mia begann allmählich sich satt zu fühlen, da sie ja nach wie vor Karin unterstützte. Es war schon einige Zeit her gewesen, dass Mia sich richtig satt gefühlt hatte, obwohl sie gar nicht so viel gegessen hatte. Sonst, wenn sie aß, aß sie bedeutend schneller, gerade weil sie wusste, dass sie dann mehr schaffen würde. Durch das langsame essen hingegen reagierte ihr Magen viel schneller auf die Nahrungsaufnahme, so dass das Sättigungsgefühl stärker und vor allem früher hervortrat. Eine Tatsache, die jeder halbwegs gut ausgebildete Ernährungsberater diätwilligen Patienten verständlich machen würde, und die man während der Völlerei zu seinem Vorteil nutzen konnte, indem man sich einfach genau gegenteilig verhielt. Auch das hatte Mia erst lernen müssen, und es war natürlich Sarah gewesen, von der sie diese Information vor einiger Zeit bekommen hatte. Tatsächlich fühlte Mia sich im Moment richtig satt, obwohl sie genau wusste, dass sie bedeutend mehr essen hätte können. Aber heute war es nicht darum gegangen, und auch so dürfte sie mit dem fettreichen Fastfood hier mehr als genug Kalorien aufgenommen haben.
Der hohe Fettanteil im Essen war es auch, der Sarah zu schaffen machte. Zwar ließ sie sich nach wie vor nichts anmerken, aber sie war mittlerweile auch mehr als satt. Zwar war ihr Magen bei weitem nicht so gefüllt, dass er "Aufhören" geschrien hätte. Aber das frittierte Hühnerfleisch und die Pommes waren ziemlich sättigend gewesen, und Sarah wusste, dass sie sicher nicht viel mehr als das, was noch vor ihr lag, schaffen würde. Umso mehr beeindruckt war sie, dass Karin, wie zu Beginn angekündigt, solange durchgehalten hatte. Sie hatte Karin weit weniger zugetraut und schon nach der zweiten Portion vermutet, dass Karin aufgeben würde. Ein wenig ärgerte Sarah sich darüber. Einmal, weil sie so nicht zu ihrer Rache kommen würde, zum anderen, weil sie eigentlich hätte wissen können, dass Karin trotz ihrer Unerfahrenheit derartige Mengen schaffen könnte. Denn, so wusste Sarah, schlanke Menschen konnten in der Regel mehr essen als ihre dickeren Mitmenschen. Der Grund dafür war so einfach wie unbekannt: die Haut des menschlichen Körpers war überaus dehnbar, ganz im Gegenteil zu Fettgewebe. Nun war es aber in aller Regel so, dass bei übergewichtigen Menschen meistens eine mehr oder weniger dicke Speckschicht den Bauch überzog, und irgendwann hinderte sie den Magen einfach daran, sich weiter auszudehnen. Daran änderte auch ein durch langfristiges Training gedehnter und somit an größere Nahrungsmengen gewohnter Magen nichts. Bei dünneren Menschen gab es diesen Widerstand nicht, so dass die einzige Grenze im Prinzip aus dem Fassungsvermögen des Magens bestand. Wobei die meisten Menschen diese Grenze niemals erreichen würden, da ihnen normalerweise lange davor schlecht wurde. Diese letzte Überlegung war im Moment das Einzige, was Sarah noch auf den Sieg hoffen ließ, denn noch eine Portion mehr würde sie vermutlich selbst nicht schaffen.
Beide Wettstreiterinnen hatten ihre Teller mittlerweile gut geleert. Sarah würde in wenigen Minuten ihre dritte Portion in ihren prallen Magen befördert haben, und sogar Karin hatte fast drei viertel von ihrer Portion geschafft.
Das sollte sich nun rächen. Karin hatte schon seit einiger Zeit nur noch mit sehr viel Anstrengung weiter gegessen, und ihr Gesicht schien seit wenigen Minuten unnatürlich blass. Als dann aus Karin’s Magen auch noch ein gurgelnder Laut zu vernehmen war und sie offensichtlich Probleme hatte, alles unten zu behalten, da griff Mia ehrlich besorgt nach Karin’s Hand und hielt sie fest. Karin bemerkte es kaum, aber hätte Mia das nicht getan, so hätte sie wohl ganz automatisch die Gabel erneut zu ihrem Mund geführt und weiter gefuttert. Aber es war auch so zu spät, erschrocken riss Karin erst die Hand vor ihren Mund, sprang dann auf und lief so schnell sie konnte zu den Toiletten.
Erst blickten Mia und Sarah ihr irritiert hinterher, dann stand Mia auf und folgte ihrer Freundin auf die Toilette. Sarah blieb sitzen und aß langsam weiter, jetzt mit der Gewissheit, siegreich aus diesem Wettkampf hervorgegangen zu sein.
Wenige Minuten später, Sarah hatte inzwischen auch die dritte Portion vertilgt, kamen Mia und Karin zurück. Karin’s Gesicht hatte wieder Farbe angenommen, und die pralle Kugel unter ihrer Bluse war kaum mehr zu erkennen oder anders gesagt: verschwunden.
Sarah überlegte kurz, ob sie Karin mit einem "Gewonnen!" begrüßen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Es bestand kein Grund, jetzt auch noch nach zutreten. "Geht es dir wieder besser?" fragte sie stattdessen.
Karin hatte sich wieder gesetzt und nickte. "Ja, jetzt schon."
Es gab eine kurze Pause, dann meinte Sarah etwas verlegen: "Weißt du, ich muss mich entschuldigen. Du hast dich gut geschlagen."
Karin lächelte zurückhaltend und meinte: "Danke. Du dich aber auch." Dabei deutete sie auf den jetzt leeren Teller, der vor Sarah stand.
Sarah lächelte und klatsche mit der flachen Hand auf ihren vollen Bauch. "Und satt bin ich jetzt auch."
Die drei Freundinnen blieben noch eine Weile sitzen, hauptsächlich um Sarah noch eine kurze Pause zum Verdauen zu gönnen, bevor sie sich schließlich auf den Nachhauseweg machten. Die Heimfahrt über sprachen sie kaum ein Wort, und nur ein gelegentliches Grummeln aus Sarah’s Bauch störte die Stille des Wageninnerns. Zumindest für Sarah hatte sich der Besuch des Americana voll und ganz gelohnt.
* * *
Mia deckte gerade den Tisch zum Frühstück, als Sarah die Wohnungstür in die Angeln warf. Sarah zog ihre Jacke aus und hängte sie in den Schrank, dann zog sie sich die Schuhe aus und ging in die Küche. Die Tüte mit den frischen Brötchen legte sie in die Mitte des Tisches und setzt sich dann. Mia holte noch rasch die Kanne mit dem heissen Tee, schenkte ihrer Schwester und sich selbst jeweils eine Tasse ein und setzte sich dann ebenfalls. Sarah hatte sich bereits ein Brötchen genommen, aufgeschnitten und mit Butter bestrichen, und Mia tat es ihr gleich.
"Hätte nicht gedacht, dass Karin so weit geht." begann Sarah das Gespräch. Sie und Mia hatten gestern nicht mehr darüber gesprochen. Nachdem Karin die beiden Schwestern zu Hause abgesetzt hatte, war Sarah in ihr Zimmer verschwunden und hatte sich für den Rest des Tages nicht mehr blicken lassen. Mia hingegen hatte sich noch ein wenig vor den Fernseher gesetzt und das Programm auf sich ein rieseln lassen, bevor sie schließlich etwas früher als üblich ins Bett gegangen war. Der gestrige Tag war nicht zuletzt wegen des stundenlangen Einkaufs doch recht anstrengend gewesen.
"Es war ja dann auch zuviel für sie." meinte Mia mit vollem Mund. "Du bist ja nicht mit auf die Toilette gekommen…."
"Ich glaube, ich weiß auch so was da passiert ist." murmelte Sarah.
"Ja." antwortete Mia knapp. "Ehrlich, das war kein schöner Anblick."
Sarah zuckte mit den Schultern. "Sie hätte aufgeben können."
"Du weißt, dass Karin nicht so einfach aufgibt." mahnte ihre Schwester. Sarah antwortete nicht, und so sprach Mia nach einer kurzen Pause weiter. "Aber geschickt hast du das ja schon angestellt."
"Nicht wahr?" grinste Sarah und biss von ihrem Brötchen ab.
"Vielleicht hat es ihr ganz gut getan, so wie sie gestern wieder drauf war. Dieses ständige Gerede von einer Diät ist mir doch ziemlich auf die Nerven gegangen." meinte Mia.
"Wem sagst du das?" Sarah nippte vorsichtig an ihrem Tee und stellte die Tasse dann wieder ab.
Ein paar Minuten frühstückten Mia und Sarah wortlos weiter, bevor Sarah schließlich das Gespräch erneut begann. Schon beim Aufstehen heute hatte sie sich überlegt, wie sie es ihrer Schwester sagen wollte, aber es war gar nicht so leicht, derartige Dinge so mir nichts dir nichts zu besprechen. Im Grunde war es nichts Schlimmes, und es betraf in erster Linie sie selbst. Sie selbst und Sean. Aber genau das war es, was die Sache so kompliziert machte.
"Kann ich mal mit dir über etwas reden?" fragte Sarah vorsichtig.
Mia blickte sie ein wenig überrascht ob des Tonfalls in Sarah’s Stimme an. "Natürlich. Schieß’ los."
Sarah faltete die Hände und legte sie auf den Tisch. "Naja, weißt du… also du kennst doch Sean."
"Ja." antwortete Mia.
Sarah nickte. "Gut. Und… naja. Ich habe mir überlegt…."
"Was denn?" fragte Mia, die neugierig geworden war.
"Ich würde gerne mit ihm zusammen ziehen." erklärte Sarah.
"Aha, verstehe." antwortet Mia. Sie hatte zwar nicht damit gerechnet, dass Sarah mit ihr darüber sprechen würde, aber sie hatte schon seit gut vier Wochen vermutet, dass es mit ihr und Sean ernster werden könnte.
"Nein, tust du nicht." meinte Sarah und seufzte.
"Also wenn du dir Sorgen um die Miete machst, das ist kein Problem." winkte Mia ab.
"Das ist es nicht." entgegnete Sarah. "Ich meine, ich möchte – nein, ich werde – mit Sean zusammenziehen."
"Soweit hab’ ich es begriffen. Aber wo liegt das Problem?"
"Also wenn du’s genau wissen willst: zwischen Europa und Nordamerika."
"Was soll das heissen?" Mia zog verwundert die Augenbrauen nach oben. Zwischen Europa und Nordamerika? Was gab es da, abgesehen vom atlantischen Ozean… aber wenn Sarah das gemeint hatte, dann hieß das…
"Sean wird wieder zurück nach Amerika gehen. Und ich werde ihn begleiten." erklärte Sarah und bestätigte damit Mia’s Vermutung.
Mia blickte ihre Schwester ausdruckslos an. "Was wird aus deinen Freunden? Und was wird aus deinem Studium?" fragte sie schließlich.
"Das kann ich auch dort beenden. Und neue Freunde finde ich dort bestimmt auch" antwortete Sarah.
Mia sog die Luft hörbar ein. Was Sarah da vor hatte schien ihr mehr als nur ein wenig überhastet. Sicher, sie und Sean mochten sich gut verstehen, aber einfach so mal schnell auswandern…
"Du und Sean. Wollt ihr dann auch heiraten." fragte Mia.
"Ja." bestätigte Sarah.
Mia schüttelte den Kopf. Sarah und Sean kannten sich gerade mal einige wenige Monate, und jetzt wollte ihre Schwester diesen Mann – der zudem auch noch ein paar Jahre älter war – heiraten, mit ihm nach Amerika auswandern und Freunde und Familie hier zurücklassen? Einfach so ihr Studium abbrechen?
"Hast du mit Mama und Papa schon darüber gesprochen?" wollte Mia wissen.
Sarah senkte den Blick. "Nein, noch nicht… ich hatte gehofft, dass du mir vielleicht ein bisschen dabei helfen würdest…" gestand sie.
"Dir dabei helfen? Du bist gut…" murmelte Mia. "Ehrlich, ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist…"
"Ich auch nicht." antwortete Sarah, ein wenig selbstbewusster als zuvor. "Aber ich kann’s nur raus finden, wenn ich’s tu’. Und ich mach’s auf jeden Fall."
"Wenn das so ist…" meinte Mia. Ihre Schwester hatte diese Idee also nicht nur, sondern sie war auch fest entschlossen, sie umzusetzen.
"Also, was ist, hilfst du mir?" fragte Sarah hoffend.
"Und du bist dir ganz sicher, dass du das tun willst?"
"Ja, bin ich." bestätigte Sarah.
Mia seufzte. "Also gut. Ich hoffe, du tust das richtige."
"Danke." freute Sarah sich und begann den Tisch abzudecken.
"Und was wird dann aus meinem Wettgewinn?" erkundigte Mia sich.
"Dein Wettgewinn?" fragte Sarah, die nicht gleich wusste, was Mia meinte.
"Du schuldest mir noch einen Masttag." erklärte Mia.
"Ach ja, stimmt. Das hatte ich fast vergessen." entschuldigte Sarah sich.
"Aber ich nicht." Mia blinzelte ihrer Schwester zu.
"Naja, es ist ja nicht so, dass wir morgen umziehen. Erst Ende Mai." meinte Sarah.
"Einen Termin dafür habt ihr also auch schon?" wunderte sich Mia.
"Natürlich. Aber da ist noch etwas hin, du bekommst deinen Masttag also schon noch. Keine Sorge." sagte Sarah.
"Du meinst: deinen Masttag." berichtigte Mia ihre Schwester.
"Oder so." grinste Sarah.
* * *
Mia bekam ihren Masttag nicht mehr. Die verbleibenden Wochen bis zu Sarah’s Umzug vergingen viel schneller als erwartet, und irgendwann mussten Mia und Sarah erkennen, dass einfach keine Zeit mehr dafür blieb. Es hatte auch so mehr als genug zu tun gegeben. Wie versprochen hatte Mia ihrer Schwester dabei geholfen, ihren gemeinsamen Eltern Sarah’s Vorhaben nahe zu bringen. Natürlich waren die alles andere als begeistert gewesen, ihre Tochter so weit aus ihren Händen zu geben. Immerhin konnten sie ihre Tochter verstehen, nachdem sie Sean kennen gelernt hatten. Er schien ein aufrichtiger, fleißiger junger Mann zu sein, und auch wenn es tatsächlich Sarah’s alleinige Entscheidung war, so war es doch gut, dass auch ihre Eltern mit Sean auskamen.
Mia und Sarah verbrachten deutlich mehr Zeit miteinander bis zu ihrer Abreise. Es schien beinahe, als wollten beide die Zeit, die sie in Zukunft nicht mehr miteinander würden verbringen können, im Voraus einfordern. Nur an den Wochenenden, wenn Sean zu Besuch war, sahen sich die beiden kaum. Manchmal aber taten sich die beiden jungen Paare auch zusammen, so dass Marc und Mia und Sean und Sarah noch einige schöne Erlebnisse hatten.
Mia hielt inzwischen ihr Gewicht. Sie hatte sich dazu durch gerungen, mit Marc über ihre Vorliebe zu sprechen, und obwohl er sie nicht völlig verstand, so schien sie ihn auch nicht zu stören. Er mochte seine Freundin so wie sie war, und das schloss jetzt eben auch ihre ausgeprägten Rundungen mit ein. Zumindest sagte er das. Dennoch hatte Mia manchmal das Gefühl, das Marc sie lieber wieder etwas schlanker sähe.
Mia hatte auch wieder begonnen, mehr Sport zu treiben, nachdem sie selbst gemerkt hatte, dass die rasche Gewichtszunahme sie doch ein wenig beeinträchtigt hatte. Das hieß allerdings nicht, dass Mia nun wie von Karin vorgeschlagen wieder in ein Leben mit Diäten zurückgekehrt wäre. Nach wie vor genoss sie es, hin und wieder richtig über die Stränge zu schlagen und einfach zu genießen. Mia achtete stattdessen nurmehr darauf, dass ihre Kurven Kurven blieben und weder wieder verschwanden noch ins unermessliche wuchsen.
Sarah auf der anderen Seite krempelte vor ihrer Abreise noch so einiges um in ihrem Leben. Nicht nur, dass sie trotz der gemeinsamen Wochenenden mit Sean, der ab Mitte April auch immer öfter während der Woche vorbei kam, es schaffte, etliche Pfunde abzunehmen, Sarah beendete ausserdem ihre Karriere als Model, sehr zum Missfallen einiger ihrer treuesten Fans. Zwar hatte Sean nie irgendwelche Einwände gegen Sarah’s "Nebenjob" vorgebracht, doch sie hatte die Lust daran verloren, ihre Vorliebe im Internet zur Schau zu stellen. Jetzt teilte sie ihr Leben lieber mit Sean.
Als schließlich der Tag der Abreise gekommen war und Sarah und Sean sich am Flughafen von Mia, ihren Eltern und auch Karin, die ebenfalls gekommen war, verabschiedeten, flossen selbstverständlich einige trennungsbedingte Tränen. Zum Abschied drückte Mia ihre kleine Schwester, die bald so weit von ihr entfernt leben würde, so fest sie nur konnte, bevor Sarah und Sean den Flieger bestiegen und in ihr neues Leben in Übersee aufbrachen.
Noch im September des selben Jahres flatterten die Einladungen zu Sean und Sarah’s Hochzeit in die Briefkästen von Mia und ihren Eltern. Sean hatte die Tickets bezahlt, und nur einen Monat später gab es ein großes Wiedersehen, gefolgt von einer kleinen, aber doch wunderschönen Hochzeit. Eine ganze Woche konnten Mia und ihre Eltern die Gastfreundschaft des neuen Ehepaars in Anspruch nehmen, ehe erneut Tränen des Abschieds flossen. Dieses Mal waren es Mia und ihre Eltern, die Sarah verließen, doch dieses Mal hatten sie alle die Gewissheit, dass trotz der mehr als 10,000 km, die zwischen ihnen lagen, sie niemals wirklich getrennt sein würden.
Mit diesem Gefühl stieg Mia in den Flieger, und als er abhob, sollte auch für Mia ein neues Leben beginnen. Doch das ist eine andere Geschichte.
Ende